VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20
Sachverhalt
Die Klägerin war Muslimin und trug einen Gesichtsschleier, den sie beim Führen eines Kraftfahrzeugs nicht ablegen wollte.1 Dafür beantragte sie vor dem VG Gelsenkirchen den Antragsgegner zu verpflichten, ihr eine Genehmigung zum Tragen eines Niqabs beim Führen eines Kraftfahrzeuges im gesamten Bundesgebiet zu erteilen.2
Gründe
Die Klage wurde abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine Ausnahmegenehmigung gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 StVO.3
Zunächst sei festzustellen, dass das Verhüllungsverbot in § 23 Abs. 4 S. 1 StVO auch unter Berücksichtigung einer möglichen Beeinträchtigung der Religionsausübung wirksam sei.4 Das Verbot müsse nicht durch den Parlamentsgesetzgeber ausgestaltet worden sein, da es den Schutzbereich der Religionsfreiheit nicht gezielt oder unmittelbar beschränke.5 Selbst wenn das Verbot in seltenen Fällen mit der Religionsfreiheit kollidiere, sei die Intensität des Eingriffs gering, da die Religionsfreiheit lediglich in der eng begrenzten, nicht wesentlichen Lebenssituation des Führens eines Kfz betroffen sei.6 Darüber hinaus sei das Verbot eine abstrakte Regelung, die nicht auf die Art der Verdeckung oder die Motivation abstelle, sich mithin religions- und geschlechterneutral darstelle.7
Die Ablehnung der Ausnahmegenehmigung leide schon nicht an Ermessensfehlern, sodass ein Verpflichtungsanspruch nicht in Betracht komme.8 Der § 23 Abs. 4 StVO bezwecke den Schutz von Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer durch die Sicherstellung der präventiven Gefahrenabwehr im Wege einer effektiven automatisierten Verkehrskontrolle.9 Dieser Schutz verfassungsrechtlich geschützter Individualrechtsgüter ginge der Religionsfreiheit vor.10
Des Weiteren stelle es keinen Ermessensfehler dar, dass der Beklagte auch auf eine Gefahr einer Einschränkung der Rundumsicht abgestellt habe, denn auch dies sei vom Schutzzweck des § 23 Abs. 4 StVO gedeckt.11 Außerdem sei eine Führung eines Fahrtenbuchs unter gleichzeitiger Beschränkung der Ausnahmegenehmigung auf das Führen des Autos der Klägerin nicht gleich effektiv, da dies nicht verhindern würde, dass andere Personen mit einem Niqab das Kfz der Klägerin führen könnten, um sich als die Klägerin auszugeben.12 Letztlich habe die Klägerin nicht ausreichend belegen können, auf die Nutzung eines Autos angewiesen zu sein, denn sie sei den vorgetragenen Beleidigungen und Übergriffen nicht nur bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sondern generell in der Öffentlichkeit ausgesetzt.13
Einordnung in die Rechtsprechung
Das vorliegende Urteil ist im Einklang mit anderen Entscheidungen zum Niqabverbot beim Führen eines Kraftfahrzeugs.14 In der Literatur stehen die Entscheidungen in der Kritik, da wissenschaftlich nicht geklärt sei, ob das Tragen eines Niqabs die Sicht einschränke und durch die Führung eines Fahrtenbuchs ein geringeres, gleich effektives Mittel vorläge.15
In einem ähnlichen Fall hat das BVerwG entschieden, dass die Religionsfreiheit eines Sikhs hinter der Verkehrssicherheit auf öffentlichen Straßen, mithin dem Schutz der Allgemeinheit, zurückzustehen hat, sodass der Kläger aufgrund des Tragens eines Turbans nicht von der Schutzhelmpflicht bei Motorradfahren befreit wurde.16
1 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 2.
2 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 33-35.
3 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 49-52.
4 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 54 f.
5 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 55.
6 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 55.
7 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 62.
8 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 63, 75.
9 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 65.
10 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 64-68.
11 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 69.
12 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 71.
13 VG Gelsenkirchen v. 06.02.2024 – 14 K 4280/20, Rn. 73.
14 OVG Rheinland-Pfalz v. 13.08.2024 - 7 A 10660/23; VG Karlsruhe v. 12.07.2023 – 12 K 4383/22; OVG NRW v. 20.05.2021 – 8 B 1967/20; BVerfG v. 26.02.2018 – 1 BvQ 6/18.
15 Rebler/Huppertz, NZV 2021, 127, 129 f.
16 BVerwG v. 04.07.2019 – 3 C 24/17, Rn. 19-22.