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Rechtsurteile

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Ausnahme vom Verhüllungsverbot für eine ein Kraftfahrzeug fahrende, einen Niqab tragende Frau

Bestätigung Kammerbeschluss vom 8. Januar 2020 - 14 L 1537/20 - Eine Muslima, die aus religiösen Gründen einen Niqab trägt, hat keinen Anspruch auf eine Ausnahme von dem am Steuer eines Kraftfahrzeugs geltenden Verhüllungsverbot


 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

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Tatbestand

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Die am      00.00.0000 geborene Klägerin verfügt seit dem 10. Juli 2001 über eine Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, M und L. Sie ist Halterin eines Personenkraftwagens.

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Unter Verwendung eines im Internet von der „Föderalen islamischen Union“ zur Verfügung gestellten Formularvordrucks beantragte sie am 15. Mai 2020 bei der Beklagten eine Befreiung vom Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 Straßenverkehrsordnung (StVO) um einen Niqab tragen zu können, weil die Bedeckung des Gesichts im Islam Pflicht sei. Zur weiteren Begründung fügte sie die Fotokopie eines religiösen Textes zur Auslegung des Korans und ein Foto von sich selbst mit der Kopfbedeckung bei.

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Mit Schreiben vom 18. Mai 2020 bat der Beklagte, unter Darlegung der rechtlich maßgeblichen Aspekte, um eine nähere Begründung des Antrags und die Übersendung einer Kopie des Führerscheins bis Ende Juli.

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Im Juni erkundigte sich die Klägerin telefonisch nach dem Stand des Verfahrens und erklärte, das Schreiben vom 18. Mai 2020 nicht erhalten zu haben. Dieses wurde ihr daraufhin unter dem 18. Juni 2020 erneut übersandt.

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Mit Schreiben vom 11. August 2020 legte die Klägerin dar, dass sie auf die Nutzung des Pkw angewiesen sei, um zu ihrer 30 km entfernten Arbeitsstelle zu kommen. Sie sei „Erwerbsminderungsrentnerin“, leide unter einer Angststörung und einem schwachen Immunsystem, weshalb es für sie nur sehr schwer möglich sei, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Ohne ihren Pkw sei sie auch auf sozialer Ebene sehr eingeschränkt, da alle ihre Freunde und die Familie außerhalb lebten und sie auch ledig sei. Des Weiteren sei sie ohne Pkw nicht in der Lage, ihre herzkranke Mutter, die 600 km entfernt lebe, zu unterstützen und zu besuchen. Dem Schreiben fügte sie weitere islamwissenschaftliche Abhandlungen zur Pflicht der Bedeckung der Frau bei.

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In einem Telefonat am 3. September 2020 verwies die Klägerin u.a. darauf, dass eine Bahncard zusätzlich neben dem Pkw zu teuer sei und auch schon Ausnahmegenehmigungen von Bezirksregierungen erteilt worden seien.

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Mit Schreiben vom 14. September 2020 bestellten sich die Prozessbevollmächtigten der Klägerin unter Vorlage einer Vollmacht und Beifügung der Führerscheinkopie bei der Klägerin. Sie teilten mit, alle erforderlichen Informationen seien bereits erteilt und eine weitere Begründung sei nicht erforderlich. Es wurde um unverzügliche Entscheidung über den Antrag gebeten. 

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Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 14. Oktober 2020 ab.

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Zur Begründung bezog er sich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Darlegungsanforderungen im Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung hinsichtlich eines schweren Nachteils aufgrund des Verbots der Gesichtsverhüllung. Die Ausnahmeregelung dürfe sich zudem nur auf Einzelfälle beschränken und dürfe nicht dazu führen, dass durch massenhaft erteilte Ausnahmen für ein ganzes Gebiet Verkehrsregelungen suspendiert würden.

 

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Es sei eine Abwägung zwischen der Ausübung der Glaubens- und Religionsfreiheit der Klägerin und den Grundrechten Dritter, wie etwa Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer vorzunehmen.

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Der Beklagte setzte sich im Einzelnen mit den von der Klägerin vorgetragenen Argumenten auseinander und stellte tragend darauf ab, dass durch die Gesichtsverhüllung die ungehinderte Rundumsicht von Kraftfahrzeugführern zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer, die Identitätsfeststellung von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen und die ungehinderte und offene Kommunikation im Straßenverkehr beeinträchtigt seien.

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Dem Antrag der Klägerin seien zu diesen Punkten keine wesentlichen Fakten zu entnehmen, welche eine Beeinträchtigung der Grundrechte der anderen Verkehrsteilnehmer durch ihre ungehinderte Religionsausübung verhinderten. Die Antragstellerin habe lediglich pauschal angegeben, der Niqab behindere weder ihre Sehfähigkeit noch ihre Bewegungsfreiheit. Außerdem habe sie zur Begründung des Einzelfalls allgemein religiöse Gründe vorgetragen, eine substantiierte Darlegung der Verletzung ihrer Glaubensfreiheit vermöge der Beklagte auf dieser Grundlage nicht zu erkennen. Die persönliche Situation, die aus Sicht der Klägerin dazu führe, auf die Nutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen zu sein, möge schwierig sein, erkläre aber nicht, warum ihr ein schwerer Nachteil entstehe, wenn sie ein Kfz ohne Niqab führe. Zur im Kraftfahrzeugverkehr erforderlichen nonverbalen Kommunikation durch Mimik und Gestik habe sie sich nicht geäußert.

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Die Klägerin müsse die Frage gestatten, wie sie im Jahr 2001 die Führerscheinprüfung habe ablegen und seitdem ihr Kraftfahrzeug habe führen können.

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Selbst bei Vorliegen der vorgenannten Voraussetzungen sei nicht ersichtlich, wie der gesetzliche Zweck des Verhüllungsverbotes bei Erteilung der Ausnahmegenehmigung erreicht werden könnte. Die Anordnung des Führens eines Fahrtenbuchs stelle keine Alternative dar, da einerseits die gesetzlichen Voraussetzungen einer solchen Anordnung nicht vorlägen und andererseits das Fahrtenbuch fahrzeugbezogen zu führen sei und nicht wirksam werde, wenn die Klägerin ein fremdes Fahrzeug führe. Auch das öffentliche Interesse an der Verkehrssicherheit spreche gegen die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung, da das Vorhandensein der ungehinderten Rundumsicht nicht belegt sei.

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Insgesamt habe das Individualinteresse der Klägerin aus Art. 4 Grundgesetz (GG) gegenüber den gleichrangigen Rechten der Allgemeinheit auf Leib und Leben zurückzustehen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die den Beteiligten bekannte Begründung des Bescheides Bezug genommen.

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Gegen den Bescheid, der mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, wonach Klage beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen zu erheben sei, hat die Klägerin am 2. November 2020 Klage beim Verwaltungsgericht B.  erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Klägerin bereits keine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 StVO brauche, weil die Bestimmung des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO gegen den Parlamentsvorbehalt verstoße und damit unwirksam sei.

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Das Verhüllungsverbot in § 23 Abs. 4 S. 1 StVO stelle schon wegen der engen Verbindung zwischen der schrankenlos gewährleisteten Glaubensfreiheit und der Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte einen erheblichen und schwerwiegenden Eingriff in die Religionsfreiheit dar. Es gelte zwar grundsätzlich für jeden Kraftfahrzeugführer, adressiere und betreffe im typischen Anwendungsfall aber in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise gezielt Kraftfahrzeugführerinnen wie die Klägerin, die ihr Gesicht aus religiöser Überzeugung bedecken. § 23 Abs. 4 S. 1 StVO betreffe damit faktisch ausschließlich weibliche Kraftfahrzeugführerinnen muslimischen Glaubens wie die Klägerin. Das in § 23 Abs. 4 S. 1 StVO angelegte Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 GG und dem Eingriff in Art. 4 Abs. 1, 2 GG habe nicht der Verordnungsgeber, sondern der hierzu aufgerufene Gesetzgeber aufzulösen.

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Bereits die Verordnungsermächtigung in § 6 Abs. 1 Nr. 3 1. HS StVG werde den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Anforderungen an die Bestimmtheit der Verordnungsermächtigung nicht gerecht. Während sich der Zweck der Verordnungsermächtigung (Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung) noch hinreichend sicher bestimmen lasse, bleibe der Umfang hierauf gestützter, exekutiver Regelungen gänzlich offen. So sei nicht vorhersehbar, in welchen Fällen und in welchem Umfang das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in Art. 4 Abs. 1, 2 GG eingreifen dürfe.

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Darüber hinaus werde das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur durch § 6 Abs. 1 Nr. 3 1. HS StVG nur zum Erlass abstrakt-genereller Regelungen ermächtigt. § 23 Abs. 4 S. 1 StVO stelle jedoch vor dem Hintergrund, dass faktisch vor allem muslimische Frauen von dem Verhüllungsverbot betroffen seien, die wie die Klägerin ihr Gesicht aus religiöser Überzeugung bedecken, eine konkret-individuelle Regelung dar, zu der § 6 Abs. 1 Nr. 3 1. HS StVG den Verordnungsgeber gerade nicht ermächtige.

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Hilfsweise habe die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung gem. § 46 Abs. 2 StVO, weiter hilfsweise auf Neubescheidung ihres Antrags.

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Die Ablehnung ihres Antrags auf Erteilung einer Ausnahme vom Verhüllungsverbot sei offenkundig rechtswidrig. Die Annahme des Beklagten, die Erteilung einer Ausnahme sei nur in dringenden Fällen und nur dann möglich, wenn der Klägerin anderenfalls ein schwerer Nachteil entstehe, sei fehlerhaft. Dies gelte auch für die Ausführungen zur offenen Kommunikation im Straßenverkehr. Soweit der Beklagte die Frage aufwerfe, wie die Klägerin ihre Fahrprüfung absolviert habe, handele es sich um eine sachfremde Erwägung, da im Fahrschulunterricht und bei der Prüfung der Fahrlehrer als Fahrzeugführer gelte und im Übrigen zu jenem Zeitpunkt noch kein Verschleierungsverbot galt. 

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Die Klägerin sei seit neun Jahren praktizierende Muslimin und trage seit einigen Jahren aus tiefer religiöser Überzeugung einen Gesichtsschleier (Niqab) als Ausdruck ihrer gesteigerten individuellen Sittsamkeit und Empfindsamkeit (Scham). Der Gesichtsschleier habe zudem einen maßgeblichen Einfluss auf das persönliche Wohlempfinden der Klägerin.

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Das der Beklagten eingeräumte Ermessen sei zugunsten der Klägerin auf null reduziert, weil die Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung die einzig sach- und ermessensgerechte Entscheidung sei und es ergebe sich ein Anspruch auf Erteilung der Genehmigung. Gemessen an dem grundgesetzlich geschützten Interesse der Klägerin aus Art. 4 Abs. 1 GG überwiege deren Interesse an der Erteilung der Ausnahmegenehmigung gem. § 46 Abs. 2 S. 1 StVO gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Verkehrssicherheit.

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Der Zweck des Verhüllungsverbotes bestehe ausweislich der Begründung des Verordnungsgebers darin, die Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen zu sichern, um diese bei Rechtsverstößen heranziehen zu können und diene damit äußerst mittelbar der Verkehrssicherheit anderer Verkehrsteilnehmer und der Verkehrssicherheit der Klägerin. Ein unmittelbarer Schutz der Verkehrssicherheit werde durch das Verhüllungsverbot jedenfalls nicht verfolgt. Insbesondere sei weder der Schutz der freien Sicht noch der nonverbalen Kommunikation ausweislich der Verordnungsbegründung Gegenstand der Regelung.

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Das aus dem Eingriff in ihre Religionsfreiheit folgende klägerische Interesse an der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gem. § 46 Abs. 2 S. 1 StVO überwiege das mit dem Verhüllungsverbot verfolgte Interesse an der Identifizierbarkeit von Kraftfahrzeugführern bei Maßnahmen der automatisierten Verkehrsüberwachung.

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Die Klägerin sei in besonderer Weise von dem Verbot des § 23 Abs. 4 StVO betroffen, weil dieses sie vor die Wahl stelle, entweder auf das Führen eines Kraftfahrzeuges zu verzichten oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten und eine Ordnungswidrigkeit oder gar ein Fahrverbot zu riskieren. Hierauf könnten sich jedoch nur solche Antragsteller berufen, die sich aufgrund ihrer Glaubensvorstellungen zum Tragen eines Gesichtsschleiers verpflichtet fühlten. Dies seien, wie die Klägerin, jedoch nur bestimmte muslimische Frauen. Diese unterschieden sich von anderen Verkehrsteilnehmern jedoch darin, dass ihnen die teilweise Verschleierung ihres Gesichts aus Glaubensgründen aufgetragen sei. Die Erteilung einer Genehmigung beschränke sich folglich auf Ausnahmefälle. Die überwältigende Mehrheit der Verkehrsteilnehmer dürfte sich nämlich nicht in einer vergleichbaren Situation wie die Klägerin befinden. Empirische Daten, die das Gegenteil belegen würden, existierten schlicht nicht, zumal § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO sogar die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen „allgemein für bestimmte Antragsteller“ erlauben würde. Mit der Erteilung der Ausnahmegenehmigung an die Klägerin werde das Verhüllungsverbot in § 23 Abs. 4 S. 1 StVO daher auch nicht im Allgemeinen obsolet. 

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Eine entsprechende zusammen mit der Ausnahmegenehmigung erteilte Auflage, z.B. zum Führen eines Fahrtenbuchs, böte jedoch eine hinreichende Sicherheit, die Klägerin im Falle eines Verkehrsverstoßes zu identifizieren und berechtigte den Beklagten bei Auflagenverstoß zum Widerruf der Ausnahmegenehmigung. Der Geeignetheit einer Fahrtenbuchauflage stehe auch nicht die Möglichkeit ihres Missbrauchs entgegen, weil die von der Klägerin begehrte Ausnahmegenehmigung auch nur für das von ihr genutzte Fahrzeug erteilt werden könnte. Die Befürchtung, die Klägerin könnte die ihr erteilte Ausnahmegenehmigung nutzen, um in wechselnden Kraftfahrzeugen Ordnungswidrigkeiten zu begehen, wäre damit unbegründet.

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Die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer werde durch die Erteilung der Ausnahmegenehmigung ebenfalls nicht beeinträchtigt. Die Rundumsicht werde beim Tragen eines Gesichtsschleiers nicht eingeschränkt, wie das zur Glaubhaftmachung beigefügte Foto der Klägerin belege.

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Die Klägerin sei auch in besonderem Maße auf die Nutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen. Insbesondere könne die Klägerin nicht auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel verwiesen werden. Die Klägerin sei in der Vergangenheit wegen ihrer Verschleierung bereits mehrfach in der Öffentlichkeit diffamiert und belästigt worden.

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Die Klägerin beantragt,

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den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin die beantragte Genehmigung zum Tragen eines Niqab beim Führen eines 

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Kraftfahrzeuges im gesamten Bundesgebiet zu erteilen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung bezieht er sich auf die Begründung des ablehnenden Bescheides und vertieft diese.

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Ergänzend führt er aus:

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Ein Anspruch auf Befreiung könne allenfalls dann bestehen, wenn dem Betroffenen der Verzicht auf das Führen eines KFZ aus besonderen individuellen Gründen nicht zugemutet werden könne. Gründe dafür seien in der Person der Klägerin nicht ersichtlich.

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Zur Sicherheit im Straßenverkehr sei eine Rundumsicht erforderlich. Diese werde in Anbetracht der Vollverschleierung des Gesichts bis auf einen kleinen Schlitz für die Augen bezweifelt. Gerade im hektischen Straßenverkehr könne der Gesichtsschleier allzu leicht verrutschen und möglicherweise das Sichtfeld sogar vollständig beschränken.

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Bei dem Verhüllungsverbot handele es sich nicht um einen schwerwiegenden Eingriff in die Religionsfreiheit. Die Bedeckung des Kopfes werde nicht vollständig verboten. So sei es der Klägerin ohne weiteres möglich, ein KFZ mit einem Kopftuch, dem sogenannten Hidschab, zu führen.

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Das Verwaltungsgericht B.        hat das Verfahren aufgrund der örtlichen Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts mit Beschluss vom 9. November 2020 an das entscheidende Gericht verwiesen.

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Die Kammer hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 8. Januar 2021 (14 L 1537/20) abgelehnt.

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Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten auch des Verfahrens im vorläufigen Rechtsschutz (14 L 1537/20) einschließlich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (Beiakte Heft 1).

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Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung erfolgt ohne mündliche Verhandlung, auf welche die Beteiligten verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-).

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Die zulässige Klage ist unbegründet, da die Ablehnung der beantragten Befreiung durch den Beklagten die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt und sie keinen Anspruch auf die begehrte Ausnahmegenehmigung hat.

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Anspruchsgrundlage für die Ausnahmegenehmigung zur Befreiung von dem sich aus § 23 Abs. 4 Satz 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) ergebenden Verbot, beim Führen eines Kraftfahrzeugs einen Niqab zu tragen, ist § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO.

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Danach können die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen von allen Vorschriften dieser Verordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen.

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§ 46 Abs. 2 Satz 1 StVO ist einschlägig, weil der speziellere Absatz 1 keine Ausnahme vom Verhüllungs- und Verdeckungsverbot des § 23 StVO zulässt.

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Die Klägerin hat aus den Gründen des Beschlusses der Kammer vom 8. Januar 2021 - 14 L 1537/20 -, welche den Beteiligten bekannt sind und auf die zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird, keinen Anspruch auf die begehrte Ausnahmegenehmigung.

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Auch die in der weiteren Klagebegründung vorgebrachten Argumente sind nicht geeignet, eine andere Bewertung der Sach- und Rechtslage herbeizuführen und begründen weder einen Anspruch der Klägerin auf Neubescheidung ihres Antrags noch auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung der Ausnahmegenehmigung.

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Die Klägerin bedarf, wovon die Kammer in der oben genannten Entscheidung im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes bereits ausgegangen ist, der beantragten Ausnahmegenehmigung, da das in § 23 Abs. 4 StVO ausgesprochene Verhüllungsverbot wirksam ist.

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Die Regelung des Verhüllungs- und Verdeckungsverbots in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO bedarf auch bei Berücksichtigung einer möglichen Beeinträchtigung der Religionsausübung keiner unmittelbaren Ausgestaltung durch den Parlamentsgesetzgeber. Die Verpflichtung, beim Führen von Kraftfahrzeugen das Gesicht weder zu verhüllen noch sonst zu verdecken, führt zu keiner gezielten oder unmittelbar den Schutzbereich der Religionsfreiheit betreffenden Beschränkung. Sie stellt vielmehr eine generelle Anordnung dar, die nur in seltenen Fällen mit der Religionsfreiheit kollidieren kann. Auch in etwaigen Konfliktfällen ist die Intensität des Eingriffs in der Regel gering, weil das Verhüllungsverbot nur das Führen eines Kraftfahrzeuges betrifft und die Religionsausübung damit nur in einer eng begrenzten und für die Religionsfreiheit typischerweise nicht wesentlichen Lebenssituation eingeschränkt sein kann. Es ist dem Gesetz- und Verordnungsgeber darüber hinaus insbesondere nicht verwehrt, in Ausübung seiner Schutzpflicht schon die Entstehung von Gefährdungslagen zu bekämpfen und auf eine Risikominimierung hinzuwirken. Abstrakt-generelle Normen zur Gefahrenvorsorge sind nicht erst dann gerechtfertigt, wenn ansonsten unmittelbar ein Gefahreneintritt zu besorgen wäre. Die Regelung steht auch im Übrigen mit dem Grundgesetz im Einklang, weil der gegebenenfalls erforderlichen Berücksichtigung grundrechtlich geschützter Belange durch die Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung Rechnung getragen ist.

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Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 3 C 24/17 -,BVerwGE 166, 125ff und juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 26. November 2020 - 6 L 2150/20, m.w.N.; www.nrwe.de.

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Zweck des verordnungsspezifischen Bestimmtheitsgebots ist die parlamentarische Steuerung und Begrenzung der exekutiven Verordnungsmacht. Auf diese Weise soll das Parlament daran gehindert werden, sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft zu entäußern. Daher muss der delegierende Gesetzgeber nicht nur selbst die Entscheidung treffen, wie bestimmte Fragen durch eine exekutive Verordnung geregelt werden sollen, sondern auch das Ziel und die Grenzen der exekutiven Verordnungsmacht festlegen.

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Gemessen an diesem Ziel lässt sich anhand der Ermächtigung bestimmen, welches gesetzgeberisch vorgezeichnete Programm verordnungsrechtlich umgesetzt oder erreicht werden soll.

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Die Ermächtigungsnorm des § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG in der bis zum 27. Juli 2021 geltenden Fassung ist ebenso wie die nunmehr zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltende Fassung der Norm (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 und 9 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 StVG) hinreichend bestimmt im Sinne des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG), wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung in dem ermächtigenden Gesetz bestimmt werden müssen, um Rechtsgrundlage für die hier in Rede stehende Regelung des § 23 StVO zu sein.

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Der Hauptzweck im Einleitungssatz der Absätze 1 und 2 begrenzt das Ausmaß der möglichen Regelungen auf solche verkehrsrechtlichen Maßgaben, die der Gefahrminderung als besonderes Ordnungsrecht dienen. Dieser Hauptweck der Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs war vor der Novellierung des § 6 StVG zwar nicht explizit genannt, jedoch wegen der Gesetzgebungsgrundlage des StVG (Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG) bereits implizit enthalten.

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Vgl., Albrecht/Kehr/von Loeper: „Die Neufassung des § 6 StVG durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften – eine Synopse des bisherigen und neuen Rechts“, SVR, Beilage zu Ausgabe 11/2021.

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Die Regelung des § 23 Abs. 4 StVO ist entgegen der von der Klägerin vertretenen Auffassung auch eine abstrakte Regelung, die sich insbesondere als religions- und geschlechtsneutral darstellt. Denn sie stellt allein darauf ab, dass das Gesicht so verhüllt wird, dass es nicht mehr zu erkennen ist. Sowohl die Art der Verdeckung, als auch die Motivation für eine solche Verdeckung werden von der Regelung weder unmittelbar genannt, noch mittelbar impliziert. Es trifft auch nicht zu, dass die Regelung allein Frauen muslimischen Glaubens betreffe, die aus religiöser Überzeugung der Ansicht sind, ihr Gesicht verdecken zu müssen. Der mit Verkehrsrecht befassten Kammer sind insbesondere aus Verfahren im Zusammenhang mit der Anordnung von Fahrtenbüchern auch andere Fälle bekannt, in denen der Fahrzeugführer bzw. die Fahrzeugführerin das Gesicht, nicht nur durch Kleidungsstücke, sondern auch durch das Vorhalten der Hand oder das Anbringen von Vorrichtungen an der Windschutzscheibe so weit verdeckte, dass eine Identifizierung anhand des durch automatische Kontrolleinrichtungen gefertigten Fotos nicht mehr möglich war. Nicht zuletzt die Diskussion und entsprechende Gerichtsentscheidungen während der Covid-19 Epidemie zu der Möglichkeit, bzw. dem Verbot des Tragens von Mund-Nase-Bedeckungen von Kraftfahrzeugführern zeigen, dass diese Bestimmung keine faktische konkret-individuelle Regelung ist.

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Aus den in dem Beschluss vom 8. Januar 2021 ausgeführten Gründen, leidet die Ablehnung der Entscheidung bereits nicht an Ermessensfehlern, insbesondere ist keine zur Entscheidungsreife führende Ermessensreduzierung „auf Null“ gegeben, welche zu einem Verpflichtungsanspruch der Klägerin führen würde.

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Insbesondere ist der Schutz verfassungsrechtlich geschützter Individualrechtsgüter

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- hier in erster Linie Leib und Leben der anderen Verkehrsteilnehmer - durch die Sicherstellung der präventiven Gefahrenabwehr im Wege einer effektiven automatisierten Verkehrskontrolle kein nur mittelbares Ziel der Bestimmung des § 23 Abs. 4 StVO, welches der Religionsfreiheit der Klägerin bereits im Ansatz unterzuordnen wäre.

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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris.

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Diese Auffassung überdehnt die Religionsfreiheit der Klägerin erheblich. Es ist allgemein anerkannt, dass die Religionsfreiheit ihre verfassungsimmanenten Schranken in gleichwertigen Grundrechtspositionen findet, sofern eine staatliche Maßnahme überhaupt einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellt. Der Schutzbereich des Art. 4 GG gewährt gerade keinen Anspruch auf eine bestimmte Gestaltung der Rechtsordnung oder ihrer Anwendung. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit in ständiger Rechtsprechung eindeutig entschieden, dass aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG kein Anspruch des Einzelnen gegen den Staat folgt, die Rechtsordnung nach seinen Glaubens- und Gewissensvorstellungen zu gestalten und zu verlangen, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen oder ihrer Anwendung gemacht wird.

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Die Ausführungen der Kammer zu dem Verhältnis der hier kollidierenden Schutzgüter im Beschluss vom 8. Januar 2021 werden durch die Wiederholung der Rechtsauffassung der Klägerin in ihrer ergänzenden Klagebegründung nicht entkräftet, so dass auf die Begründung des Beschlusses Bezug genommen wird.

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Die Ablehnungsentscheidung des Beklagten wird auch nicht dadurch ermessensfehlerhaft, dass neben der Möglichkeit zur Identifizierung der Fahrzeugführerin auf die Gefahr einer Einschränkung der Rundumsicht abgestellt wird. Das aus § 23 Abs. 4 StVO folgende Verbot der Verhüllung des Gesichts durch einen Niqab dient nicht nur der Ermöglichung automatischer Verkehrskontrollen, sondern darüber hinaus auch der Sicherstellung einer Rundumsicht der Kraftfahrzeugführerin, bzw. des Kraftfahrzeugführers.

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Vgl. BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 26. Februar 2018 - 1 BvQ 6/18 -, juris.

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Die von der Klägerin als mildere Alternative angeführte Anordnung eines Fahrtenbuchs, gegebenenfalls unter gleichzeitiger Beschränkung der Ausnahmegenehmigung auf das Führen des Kraftfahrzeugs der Klägerin, ist nicht in gleichem Maße geeignet, die mit der Vorschrift des § 23 Abs. 4 StVO verfolgten Ziele zu erreichen. Denn eine solche Anordnung ist nicht dazu geeignet, zu verhindern, dass eine andere Person als die Klägerin wahrheitswidrig behauptet, das Kraftfahrzeug geführt zu haben, oder umgekehrt, dass die Klägerin wahrheitswidrig behauptet, zum Zeitpunkt des Verkehrsverstoßes die mit einem Niquab bekleidete Fahrzeugführerin gewesen zu sein.

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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris

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Schließlich stellen die von der Klägerin als Argument für die zwingende Angewiesenheit auf die Nutzung eines Automobils vorgetragenen Beleidigungen und Übergriffe kein taugliches Argument für die Notwendigkeit der begehrten Befreiung dar. Die Klägerin sieht sich bereits nach ihrem eigenen Vortrag derartigen - grundsätzlich zu missbilligenden - Diffamierungen und Beleidigungen nicht nur bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sondern generell in der Öffentlichkeit ausgesetzt und muss insoweit damit umgehen.

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Weitere Anhaltspunkte, welche eine besondere Ausnahmesituation der Klägerin rechtfertigen könnten, die von dem Beklagten nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt worden wären, sind nicht ersichtlich. Insoweit kann daher auf die bereits im Beschluss vom 8. Januar 2021 angestellten Erwägungen zu besonderen individuellen Gründen Bezug genommen werden.

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Da sich bereits die Ablehnungsentscheidung des Beklagten als ermessensfehlerfrei darstellt, ist kein Raum mehr für die Annahme einer Ermessensreduzierung, welche zu der beantragten Verpflichtung des Beklagten führen könnte.

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[…]

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