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Rechtsurteile

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Ausnahme vom Verhüllungsverbot beim Führen eines KFZ

Das Verhüllungsverbot während des Führens eines KFZ gem. § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO stellt keinen unmittelbaren Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 GG dar. Für eine Niqab-Trägerin, die ihr Niqab aufgrund eines für sie verpflichtenden religiösen Gebots trägt, stellt die Vorschrift einen mittelbaren Eingriff dar, da sie vor die Wahl gestellt wird ihr Niqab abzulegen oder auf das Führen eines KFZ zu verzichten. Der Schutzbereich des Art. 4 GG gewährt jedoch keinen direkten Anspruch auf eine Ausnahmegenhmigung, sondern nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO. (Leitsatz der Redaktion)


Leitsatz:

Eine Muslima, die aus religiösen Gründen einen Niqab trägt, hat keinen Anspruch auf eine Ausnahme von dem am Steuer eines Kraftfahrzeugs geltenden Verhüllungsverbot.

 

Beschluss:

1. Der Antrag wird abgelehnt. […]

 

Gründe:

I.

 

Die […] Antragstellerin verfügt […] über eine Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, M und L. Sie ist Halterin eines Personenkraftwagens.

1

Unter Verwendung eines im Internet von der "Föderalen islamischen Union" zur Verfügung gestellten Formularvordrucks beantragte sie am 15. Mai 2020 bei der Antragsgegnerin eine Befreiung vom Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 Straßenverkehrsordnung (StVO) um einen Niqab tragen zu können. Die Bedeckung des Gesichts sei im Islam Pflicht. Zur weiteren Begründung fügte sie die Fotokopie eines religiösen Textes zur Auslegung des Korans und ein Foto von sich selbst mit der Kopfbedeckung bei.

2

Mit Schreiben vom 18. Mai 2020 bat die Antragsgegnerin, unter Darlegung der rechtlich maßgeblichen Aspekte, um eine nähere Begründung des Antrags und die Übersendung einer Kopie des Führerscheins bis Ende Juli.

3

Im Juni erkundigte sich die Antragstellerin telefonisch nach dem Stand des Verfahrens und erklärte, das Schreiben vom 18. Mai 2020 nicht erhalten zu haben. Dieses wurde ihr daraufhin unter dem 18. Juni 2020 erneut übersandt.

4

Mit Schreiben vom 11. August 2020 legte die Klägerin dar, dass sie auf die Nutzung des Pkw angewiesen sei, um zu ihrer 30 km entfernten Arbeitsstelle zu kommen. Sie sei "Erwerbsminderungsrentnerin", leide unter einer Angststörung und einem schwachen Immunsystem, weshalb es für sie nur sehr schwer möglich sei, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Ohne ihren Pkw sei sie auch auf sozialer Ebene sehr eingeschränkt, da alle ihre Freunde und die Familie außerhalb lebten und sie auch ledig sei. Des Weiteren sei sie ohne Pkw nicht in der Lage, ihre herzkranke Mutter, die 600 km entfernt lebe, zu unterstützen und zu besuchen. Dem Schreiben fügte sie weitere islamwissenschaftliche Abhandlungen zur Pflicht der Bedeckung der Frau bei.

5

Mit Schreiben vom 24. August 2020 teilte die Antragsgegnerin mit, dass ein schwerer Nachteil durch die Einhaltung der Bestimmung des § 23 Abs. 4 StVO bislang nicht zu erkennen sei und erinnerte an die Übersendung der Führerscheinkopie.

6

In einem Telefonat am 3. September 2020 verwies die Antragstellerin u.a. darauf, dass eine Bahncard zusätzlich neben dem Pkw zu teuer sei und auch schon Ausnahmegenehmigungen von Bezirksregierungen erteilt worden seien. Sie werde die Führerscheinkopie übersenden.

7

Mit Schreiben vom 14. September 2020 bestellten sich die Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin unter Vorlage einer Vollmacht und Beifügung der Führerscheinkopie bei der Antragsgegnerin. Sie teilten mit, dass alle erforderlichen Informationen bereits erteilt wurden und eine weitere Begründung nicht erforderlich sei. Es wurde um unverzügliche Entscheidung über den Antrag gebeten.

8

Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 14. Oktober 2020 ab.

9

Zur Begründung bezog sie sich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Darlegungsanforderungen im Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung hinsichtlich eines schweren Nachteils aufgrund des Verbots der Gesichtsverhüllung. Die Ausnahmeregelung dürfe sich zudem nur auf Einzelfälle beschränken und dürfe nicht dazu führen, dass durch massenhaft erteilte Ausnahmen für ein ganzes Gebiet Verkehrsregelungen suspendiert würden.

10

Es sei eine Abwägung zwischen der Ausübung der Glaubens- und Religionsfreiheit der Antragstellerin und den Grundrechten Dritter, wie etwa Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer vorzunehmen.

11

Die Antragsgegnerin setzte sich im Einzelnen mit den von der Antragstellerin vorgetragenen Argumenten auseinander und stellte tragend darauf ab, dass durch die Gesichtsverhüllung die ungehinderte Rundumsicht von Kraftfahrzeugführern zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer, die Identitätsfeststellung von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen und die ungehinderte und offene Kommunikation im Straßenverkehr beeinträchtigt seien.

12

Dem Antrag der Antragstellerin seien zu diesen Punkten keine wesentlichen Fakten zu entnehmen, welche eine Beeinträchtigung der Grundrechte der anderen Verkehrsteilnehmer durch ihre ungehinderte Religionsausübung verhinderten. Die Antragstellerin habe lediglich pauschal angegeben, der Niqab behindere weder ihre Sehfähigkeit noch ihre Bewegungsfreiheit. Außerdem habe sie zur Begründung des Einzelfalls allgemein religiöse Gründe vorgetragen, eine substantiierte Darlegung der Verletzung ihrer Glaubensfreiheit vermöge die Antragsgegnerin auf dieser Grundlage nicht zu erkennen. Die persönliche Situation, die aus Sicht der Antragstellerin dazu führe, auf die Nutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen zu sein, möge schwierig sein, erkläre aber nicht, warum ihr ein schwerer Nachteil entstehe, wenn sie ein Kfz ohne Niqab führe. Zur im Kraftfahrzeugverkehr erforderlichen nonverbalen Kommunikation durch Mimik und Gestik habe sie sich nicht geäußert.

13

Die Antragstellerin müsse die Frage gestatten, wie sie im Jahr 2001 die Führerscheinprüfung habe ablegen und seitdem ihr Kraftfahrzeug habe führen können.

14

Selbst bei Vorliegen der vorgenannten Voraussetzungen sei nicht ersichtlich, wie der gesetzliche Zweck des Verhüllungsverbotes bei Erteilung der Ausnahmegenehmigung erreicht werden könnte. Die Anordnung des Führens eines Fahrtenbuchs stelle keine Alternative dar, da einerseits die gesetzlichen Voraussetzungen einer solchen Anordnung nicht vorlägen und andererseits das Fahrtenbuch fahrzeugbezogen zu führen sei und nicht wirksam werde, wenn die Antragstellerin ein fremdes Fahrzeug führe. Auch das öffentliche Interesse an der Verkehrssicherheit spreche gegen die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung, da das Vorhandensein der ungehinderten Rundumsicht nicht belegt sei.

15

Insgesamt habe das Individualinteresse der Antragstellerin aus Art. 4 Grundgesetz (GG) gegenüber den gleichrangigen Rechten der Allgemeinheit auf Leib und Leben zurückzustehen. […]

16

Die Antragstellerin hat am 2. November 2020 Klage beim Verwaltungsgericht Arnsberg erhoben und den hier zu entscheidenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

19

Die Ablehnung ihres Antrags auf Erteilung einer Ausnahme vom Verhüllungsverbot sei offenkundig rechtswidrig. Die Annahme der Antragsgegnerin, die Erteilung einer Ausnahme sei nur in dringenden Fällen und nur dann möglich, wenn der Antragstellerin anderenfalls ein schwerer Nachteil entstehe, sei fehlerhaft. Dies gelte auch für die Ausführungen zur offenen Kommunikation im Straßenverkehr. Soweit die Antragsgegnerin die Frage aufwerfe, wie die Antragstellerin ihre Fahrprüfung absolviert habe, handele es sich um eine sachfremde Erwägung, da im Fahrschulunterricht und bei der Prüfung der Fahrlehrer als Fahrzeugführer gelte und im Übrigen zu jenem Zeitpunkt noch kein Verschleierungsverbot galt.

20

Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung.

21

Die Antragstellerin sei seit neun Jahren praktizierende Muslimin und trage seit einigen Jahren aus tiefer religiöser Überzeugung einen Gesichtsschleier (Niqab) als Ausdruck ihrer gesteigerten individuellen Sittsamkeit und Empfindsamkeit (Scham). Der Gesichtsschleier habe zudem einen maßgeblichen Einfluss auf das persönliche Wohlempfinden der Antragstellerin.

22

Das der Antragsgegnerin eingeräumte Ermessen sei zugunsten der Antragstellerin auf null reduziert, weil die Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung die einzig sach- und ermessensgerechte Entscheidung sei. Gemessen an dem grundgesetzlich geschützten Interesse der Antragstellerin aus Art. 4 Abs. 1 GG überwiege deren Interesse an der Erteilung der Ausnahmegenehmigung gem. § 46 Abs. 2 S. 1 StVO gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Verkehrssicherheit.

23

Die Antragstellerin sei in besonderer Weise von dem Verbot des § 23 Abs. 4 StVO betroffen, weil dieses sie vor die Wahl stelle, entweder auf das Führen eines Kraftfahrzeuges zu verzichten oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten und eine Ordnungswidrigkeit oder gar ein Fahrverbot zu riskieren. Hierauf könnten sich jedoch nur solche Antragsteller berufen, die sich aufgrund ihrer Glaubensvorstellungen zum Tragen eines Gesichtsschleiers verpflichtet fühlten. Dies seien, wie die Antragstellerin, jedoch nur bestimmte muslimische Frauen. Diese unterschieden sich von anderen Verkehrsteilnehmern jedoch darin, dass ihnen die teilweise Verschleierung ihres Gesichts aus Glaubensgründen aufgetragen ist. Die Erteilung einer Genehmigung beschränke sich folglich auf Ausnahmefälle. Die überwältigende Mehrheit der Verkehrsteilnehmer dürfte sich nämlich nicht in einer vergleichbaren Situation wie die Antragstellerin befinden. Empirische Daten, die das Gegenteil belegen würden, existierten schlicht nicht, zumal § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO sogar die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen "allgemein für bestimmte Antragsteller" erlauben würde.

24

Eine entsprechende zusammen mit der Ausnahmegenehmigung erteilte Auflage böte jedoch eine hinreichende Sicherheit, die Antragstellerin im Falle eines Verkehrsverstoßes zu identifizieren und berechtigte die Antragsgegnerin bei Auflagenverstoß zum Widerruf der Ausnahmegenehmigung. Die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer werde durch die Erteilung der Ausnahmegenehmigung ebenfalls nicht beeinträchtigt. Die Rundumsicht werde beim Tragen eines Gesichtsschleiers nicht eingeschränkt, wie das zur Glaubhaftmachung beigefügte Foto der Antragstellerin belege.

25

Der Anordnungsgrund ergebe sich daraus, dass die Antragstellerin zur Unterstützung ihrer herzkranken Mutter auf das Fahrzeug angewiesen sei.

26

Die Antragstellerin beantragt,

27

die Antragsgegnerin wird einstweilen verpflichtet, der Antragstellerin die Ausnahmegenehmigung zum Tragen eines Niqab beim Führen eines Kraftfahrzeuges im gesamten Bundesgebiet zu erteilen.

28

Die Antragsgegnerin beantragt,

29

den Antrag abzulehnen.

30

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Begründung des ablehnenden Bescheides und vertieft diese.

31

Ergänzend führt sie aus:

32

Ein Anspruch auf Befreiung könne allenfalls dann bestehen, wenn dem Betroffenen der Verzicht auf das Führen eines KFZ aus besonderen individuellen Gründen nicht zugemutet werden könne. Gründe dafür seien in der Person der Antragstellerin nicht ersichtlich.

33

Zur Sicherheit im Straßenverkehr sei eine Rundumsicht erforderlich. Diese werde in Anbetracht der Vollverschleierung des Gesichts bis auf einen kleinen Schlitz für die Augen bezweifelt. Gerade im hektischen Straßenverkehr könne der Gesichtsschleier allzu leicht verrutschen und möglicherweise das Sichtfeld sogar vollständig beschränken.

34

Bei dem Verhüllungsverbot handele es sich nicht um einen schwerwiegenden Eingriff in die Religionsfreiheit. Die Bedeckung des Kopfes werde nicht vollständig verboten. So sei es der Antragstellerin ohne weiteres möglich, ein KFZ mit einem Kopftuch, dem sogenannten Hidschab, zu führen.

35

Im Übrigen werde die Eilbedürftigkeit der Sache bezweifelt. Das Verhüllungsverbot gemäß § 23 Abs. 4 StVO bestehe bereits seit dem Jahr 2017. Außerdem sei der Antrag beim Antragsgegner schon im Mai 2020 gestellt und über mehrere Monate nicht oder nur sehr zäh weiter betrieben worden. […]

 

II.

36

Der zulässige Antrag ist unbegründet.

38

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich ist die Glaubhaftmachung sowohl eines Anordnungsanspruches als auch eines Anordnungsgrundes (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO). Dabei soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung grundsätzlich die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden.

39

Der Klägerin steht der geltend gemachte Anordnungsanspruch offenkundig nicht zu.

40

Anspruchsgrundlage für die Ausnahmegenehmigung zur Befreiung von dem sich aus § 23 Abs. 4 Satz 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) ergebenden Verbot, beim Führen eines Kraftfahrzeugs einen Niqab zu tragen, ist § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO. Danach können die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen von allen Vorschriften dieser Verordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen. […]

41

Die formellen Genehmigungsvoraussetzungen sind erfüllt und die Antragsgegnerin ist auch passivlegitimiert. […]

43

Die Antragstellerin hat jedoch das Vorliegen der materiellen Anspruchsvoraussetzungen nicht glaubhaft gemacht. Grundsätzlich räumt die Ermächtigungsgrundlage des § 46 Abs. 2 StVO der Antragsgegnerin bei der Entscheidung über die Erteilung einer Ausnahme Ermessen ein. Dementsprechend steht der Antragstellerin ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung zu. Ob ein solcher für den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel einer vorläufigen Neubescheidung ausreichen kann, oder darüber hinaus eine Ermessensreduzierung dergestalt vorliegen muss, dass lediglich die Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung als ermessensfehlerfreie Entscheidung verbleibt, kann vorliegend offen gelassen werden, denn die durch die Antragsgegnerin getroffene Entscheidung, den Antrag auf Ausnahme vom Verhüllungsverbot abzulehnen, stellt sich auch nach dem für das Gericht maßgeblichen Prüfungsmaßstab des § 114 Abs. 1 VwGO als ermessensfehlerfrei und damit rechtmäßig dar. Eine Reduzierung des der Antragsgegnerin eingeräumten Ermessens dahingehend, dass allein die Entscheidung, der Antragstellern die beantragte Ausnahmegenehmigung zu erteilen rechtmäßig wäre, hat sie nicht glaubhaft gemacht. Das von der Antragstellerin einzig angeführte Argument ihrer Religionsfreiheit trägt den geltend gemachten Anspruch nicht.

46

Die Antragstellerin bedarf einer Ausnahme, um mit angelegtem Niqab ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen. Denn nach § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO darf, wer ein Kraftfahrzeug führt, sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass er nicht mehr zu erkennen ist. Die Ausnahme des Satzes 2 für Schutzhelme bei offenen Kraftfahrzeugen nach § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO ist für die Antragstellerin nicht einschlägig, weil sie ihr Gesicht nicht mit einem Schutzhelm, sondern es bis auf die Augenpartie mit einem Kopftuch verdecken will.

47

Diese Norm ist wirksam, sie verstößt auch unter Berücksichtigung der durch Art. 4 GG geschützten Religionsfreiheit nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen den Wesentlichkeitsvorbehalt, nach dem der parlamentarische Gesetzgeber alle wesentlichen, insbesondere grundrechtsrelevanten Regelungen selbst treffen muss. […]

48

Durch die den Straßenverkehrsbehörden in § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO eingeräumte Möglichkeit, eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen, soll besonderen Ausnahmesituationen Rechnung getragen werden, die bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten und eine unbillige Härte für den Betroffenen zur Folge hätten. […]

50

Das Merkmal der Ausnahme in § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO ist nicht als eigenständiges Tatbestandsmerkmal verselbstständigt, sondern Bestandteil der der Behörde obliegenden Ermessensentscheidung. Das bedeutet aber lediglich, dass das Tatbestandsmerkmal des Vorliegens einer Ausnahme nicht mit einer Ermessensentscheidung gekoppelt ist und das Vorliegen einer Ausnahmesituation lediglich eine Wertungsvorgabe im Rahmen einer einheitlich zu treffenden Ermessensentscheidung darstellt.

52

Die Ausnahmesituation ist der Ausgangspunkt der Gesamtabwägung; liegt sie bei einem gewichtenden Vergleich der Umstände des konkreten Falls mit dem typischen Regelfall nicht vor, ist also die Antragstellerin in gleicher Weise von der verkehrsrechtlichen Vorschrift, von der sie eine Ausnahme begehrt, betroffen wie alle anderen oder ein großer Teil der Verkehrsteilnehmer, so kann, ohne dass es weiterer Abwägungen bedarf, eine Ausnahmegenehmigung nicht erteilt werden, denn in einem solchen Fall ist das Ermessen dahingehend auf null reduziert, dass die Ausnahmegenehmigung ausscheidet. […]

53

Die Auffassung der Antragstellerin, der Wortlaut des § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO, der Ausnahmen "allgemein für bestimmte Antragsteller" zulasse, stütze ihre Auffassung, dass es nicht darauf ankommen könne, ob sie sich in einer anderen Situation als die Mehrheit der Kraftfahrer befinde, beruht auf einem Missverständnis der Norm.

55

§ 46 Abs. 2 Satz 1 StVO unterscheidet bei der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen zwischen zwei Fällen, nämlich Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller. Die Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle betreffen einzelne Anlässe oder Fahrten, sind also anlassbezogen, während die zweite Variante personenbezogen ist und eine unbestimmte Anzahl von Anlässen oder Fahrten betrifft.

56

Der Antrag der Antragstellerin richtet sich auf eine Ausnahme für ihre Person, die allgemein für sämtliche von ihr durchgeführten Fahrten gelten soll.

57

Grundsätzlich ist daher eine Ausnahmesituation speziell in der Person der Antragstellerin erforderlich, welche bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnte und deshalb die Ausnahme von dem allgemein geltenden Verbot der Gesichtsverhüllung erforderte, um eine unbillige Härte für die Antragstellerin zu vermeiden.

58

Eine solche das Ermessen eröffnende Ausnahmesituation liegt vor, wenn das Erfordernis eine Gesichtsverhüllung zu tragen, auf religiösen Gründen beruht. […]

59

Hierbei kann dahinstehen, ob die religiöse Auffassung der Antragstellerin tatsächlich in dieser Strenge mit der Glaubensüberzeugung und -ausübung der anderen Mitglieder der Religionsgemeinschaft übereinstimmt oder aber auf der alleinigen Überzeugung der Antragstellerin beruht. Der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG umfasst auch den Anspruch, nach eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen leben und handeln zu dürfen. Dabei sind nicht nur Ansichten, die auf imperativen Glaubenssätzen beruhen, durch Art. 4 GG geschützt. Vielmehr umspannt diese Freiheit auch religiöse Überzeugungen, die für eine konkrete Lebenssituation eine religiöse Reaktion zwar nicht zwingend fordern, diese aber für das beste und adäquate Mittel halten, um die Lebenslage nach der Glaubenshaltung zu bewältigen. Andernfalls würde das Grundrecht der Glaubensfreiheit sich nicht voll entfalten können. […]

61

Durch die in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO angeordnete Pflicht, beim Führen eines Kraftfahrzeugs das Gesicht nicht zu verhüllen oder zu verdecken, wird allerdings niemand an der Praktizierung seines Glaubens gehindert. Die Regelung stellt daher bereits keinen "klassischen" staatlichen Eingriff in die Religions(ausübungs)freiheit dar, weil sie in ihrem Regelungsgehalt nicht auf die Beschränkung der religiösen Überzeugungen oder Betätigungen der Antragstellerin zielt, sondern auf die von der Antragsgegnerin ausführlich dargestellten im öffentlichen Interesse stehenden allgemeinen Belange des Straßenverkehrs, insbesondere den Schutz der Rechtsgüter anderer Verkehrsteilnehmer. Bei Befolgung der von ihr als verbindlich empfundenen Bekleidungsvorschriften muss die Antragstellerin aber auf das Führen von Kraftfahrzeugen verzichten. Die Regelung kann sie daher mittelbar in ihrer Religionsausübung beeinträchtigen. […]

63

Aber auch dann, wenn eine Kraftfahrerin sich aus religiösen Gründen daran gehindert sieht, ihre Gesichtsverhüllung abzulegen, zieht diese mittelbare Beeinträchtigung ihrer durch Art. 4 GG geschützten Rechtspositionen entgegen der Ansicht der Antragstellerin keinen unmittelbaren Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach sich.

65

Der Schutzbereich des Art. 4 GG gewährt nämlich keinen Anspruch auf eine bestimmte Gestaltung der Rechtsordnung oder ihrer Anwendung. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit in ständiger Rechtsprechung eindeutig entschieden, dass aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG kein Anspruch des Einzelnen gegen den Staat folgt, die Rechtsordnung nach seinen Glaubens- und Gewissensvorstellungen zu gestalten und zu verlangen, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen oder ihrer Anwendung gemacht wird.

66

Eine solche religiöse Überzeugung der Antragstellerin eröffnet demnach zunächst nur die Möglichkeit der Antragsgegnerin, eine Entscheidung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO unter Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens zu treffen.

67

Diese Ermessensentscheidung kann das Gericht nur im eingeschränkten Prüfungsrahmen des § 114 VwGO daraufhin überprüfen, dass die Behörde in der Erkenntnis des ihr eingeräumten Ermessens alle den Rechtsstreit kennzeichnenden Belange in ihre Erwägung eingestellt hat, dabei von richtigen und vollständigen Tatsachen ausgegangen ist, die Gewichtung dieser Belange der Sache angemessen erfolgt ist und das Abwägungsergebnis zu vertreten ist, insbesondere nicht gegen höherrangiges Recht verstößt.

68

Die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Freiheitsrechte sind allerdings zugleich eine wertentscheidende Grundsatznorm, und zwar höchsten verfassungsrechtlichen Ranges, die bei Staatstätigkeit jeder Art ihre Wertmaßstäbe setzende Kraft entfaltet und Beachtung verlangt. […]

69

Die sich daraus ergebende Schutzpflicht des Staates, die ihren Ausdruck in einem allgemeinen staatlichen "Wohlwollensgebot" gegenüber demjenigen findet, der sich auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG beruft, ist aber ebensowenig wie die Religions- bzw. Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG selbst grenzen- bzw. schrankenlos gewährleistet. Zwar sind Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht durch einen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt, aber dennoch Einschränkungen zugänglich, die sich aus der Verfassung selbst ergeben. […]

71

Den so begrenzten Entscheidungsrahmen hat die Antragsgegnerin bei ihrer hier streitgegenständlichen Entscheidung nicht überschritten.

73

Es ist nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin in ihre Entscheidung das der Regelung des § 23 Abs. 4 StVO zugrundeliegende öffentliche Interesse an einerseits der allgemeinen Verkehrssicherheit durch ein ungehindertes - auch peripheres - Sichtfeld eines Kraftfahrzeugführers, andererseits aber auch die Notwendigkeit einer ungehinderten nonverbalen Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern eingestellt hat. Soweit die Antragstellerin in ihrer Antragsbegründung darauf abstellt, dass einen solche nonverbale Kommunikation über die Mimik des Gesichts unter Autofahrern aufgrund der generell eingeschränkten Sichtverhältnisse nicht möglich sei, widerspricht sie bereits ihrer eigenen Erklärung für das Bedürfnis eine Vollverschleierung auch im Auto aufgrund ihres Schamgefühls, das durch die Blicke anderer Autofahrer beeinträchtigt werde. Es entspricht im Übrigen der allgemeinen Lebenserfahrung, dass gerade im Straßenverkehr die Kommunikation durch die fehlende Möglichkeit, das Gesicht des anderen Fahrers zu erkennen, beeinträchtigt sein kann.

74

Unabhängig davon hat die Antragsgegnerin in nicht zu beanstandender Weise auch auf die Notwendigkeit abgestellt, Fahrzeugführer anhand des Gesichts erkennen zu können, um die Möglichkeit Verkehrsverstöße zu ahnden, nicht von vornherein auszuschließen. Die Gewissheit, sich im Straßenverkehr nicht unerkannt bewegen zu können, wirkt präventiv gegen Verkehrsverstöße, steigert die allgemeine Sicherheit des Straßenverkehrs und dient damit dem Schutz erheblicher Rechtsgüter der anderen Verkehrsteilnehmer.

75

Schließlich ist es auch nicht zu beanstanden, wenn die Antragsgegnerin darauf abstellt, dass das Tragen eines Niqab die freie Sicht einschränkt, bzw. zumindest dann einschränkt, wenn er verrutscht und dass als Folge einer solchen Sichtbehinderung kritische Verkehrssituationen mit erheblichen Gefahren für hochrangige Rechtsgüter der anderen Verkehrsteilnehmer entstehen können. Insoweit kann dahinstehen, ob in Ländern, in denen ein Niqab ein weiter verbreitetes Kleidungsstück ist als in Deutschland, Frauen mit einem Niqab ein Kraftfahrzeug führen dürfen, oder ob die Verkehrsverhältnisse dort mit den hiesigen vergleichbar sind, denn maßgeblich für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Antragsgegnerin sind die konkreten Verkehrsverhältnisse und die daraus resultierenden Gefahren im Bereich der Bundesrepublik Deutschland, für deren Bereich die Antragstellerin die Ausnahmegenehmigung begehrt.

76

Die Antragsgegnerin hat die sich aus der Religionsfreiheit der Antragstellerin ergebende Rechtsposition hinreichend gewürdigt und mit den öffentlichen Belangen abgewogen.

77

Kollidieren wie hier vorbehaltlos, nicht aber "schrankenlos" gewährte Grundrechte wie die Religionsfreiheit im weiteren Sinne, mit einem anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgut, wie hier Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer und deren, ebenfalls durch das Grundgesetz geschützte Eigentum, welche durch die Straßenverkehrsordnung ebenso geschützt werden, sind diese geschützten Rechtspositionen einerseits und das mittelbar betroffene Grundrecht der Antragstellerin andererseits unter Beachtung des Wesensgehalts des Grundrechts nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundrechtlichen Wertsystems situationsgebunden nach dem Grundsatz des schonendsten Ausgleichs in eine sinnvolle Balance zu bringen. Nur wenn ein solcher Ausgleich nicht möglich ist, muss geprüft werden, welches Grundrecht nach den Umständen des Einzelfalls das größere Gewicht hat.

78

Eine solche Vorgehensweise stellt sich nicht - wie der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin zum Ausdruck bringt - als "geschichtsvergessen und als Armutszeugnis für Deutschland" dar, sondern ist Ausdruck der pluralistischen und freiheitlichen Werteordnung des Grundgesetzes. Diese lässt es eben gerade nicht zu, dass eine Rechtsposition ohne Rücksicht auf die Belange Anderer durchgesetzt werden könnte, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine "Mehrheitsposition" oder um die Rechte einer Minderheit handelt.

79

Ein Anspruch auf Befreiung vom Verbot, das Gesicht zu verhüllen oder zu verdecken, kann angesichts dessen allenfalls dann bestehen, wenn der Betroffenen der Verzicht auf das Führen eines Kraftfahrzeugs aus besonderen individuellen Gründen nicht zugemutet werden kann. […]

80

Obwohl die Antragstellerin trotz mehrfacher Nachfrage durch die Antragsgegnerin sich zur Begründung ihrer persönlichen religiösen Überzeugung allein auf allgemeine religiöse Abhandlungen zum Thema der Gesichtsverhüllung, weitestgehend ohne Quellenangabe, sondern lediglich mit weiterführenden Fußnoten bezieht, und beispielsweise nicht dargelegt hat, warum mögliche Alternativen zur Kopfbedeckung aus ihrer persönlichen religiösen Überzeugung nicht in Betracht kommen, geht die Kammer vorläufig von einer glaubensgeleiteten Entscheidung der Antragstellerin aus.

82

Auch wenn man bei der Antragstellerin von einem zumindest subjektiv zwingenden Glaubensimperativ ausgeht, hat sie nicht hinreichend glaubhaft gemacht, aus individuellen Gründen auf die Nutzung eines Kraftwagens angewiesen zu sein. Die Gründe, aus denen sie ein Kraftfahrzeug nutzen will, unterscheiden sich nicht von dem Jedermann-Interesse an individueller motorisierter Fortbewegung.

83

Soweit sie darauf abstellt, dass es ihr aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen nur unter sehr großer Anstrengung möglich sei, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, hat sie diesen Vortrag weder substantiiert noch glaubhaft gemacht. Ebensowenig hat sie dargelegt, warum diese nicht näher spezifizierten gesundheitlichen Einschränkungen, die nach ihrem Vortrag offenbar ihre Eignung ein Kraftfahrzeug zu führen nicht einschränken, es ihr nahezu unmöglich machen, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, wenn sie einen Niqab trägt.

84

Alleine die in der Antragsbegründung hervorgehobene "Steigerung ihres persönlichen Wohlempfindens" durch das Tragen eines Niqab, mag jene auch religiös begründet sein, zu deren Glaubhaftmachung sie der Antragsbegründung eine eidesstattliche Versicherung beifügt, vermag das öffentliche Interesse an der Verkehrssicherheit nicht zurücktreten zu lassen. Dies gilt auch für die von der Antragstellerin in der eidesstattlichen Versicherung dargestellte Enttäuschung darüber, dass "der Rechtsstaat" ihre religiöse Überzeugung nicht ausreichen lässt, um die begehrte Ausnahme von dem Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO zu gewähren.

85

Soweit die Antragstellerin die Auffassung vertritt, die Ausnahmegenehmigung könne mit Auflagen oder Bedingungen versehen werden, um die Identifizierung der Fahrerin sicherzustellen, räumt dies die in dem streitgegenständlichen Bescheid dargelegten Bedenken hinsichtlich der Sicherheit des Straßenverkehrs jedenfalls nicht aus.

86

Da die Antragstellerin bereits keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat, kann dahinstehen, ob für das Rechtsschutzbegehren trotz der schleppenden Mitwirkung im Verwaltungsverfahren ein Anordnungsgrund, also eine besondere Eilbedürftigkeit, anzuerkennen wäre. Dies erscheint der Kammer allerdings angesichts der konkreten Umstände zweifelhaft. […]

87

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