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Gesichtsverschleierung (Niqab)?

DARF EINE ÖFFENTLICHE SCHULE EINER MUSLIMISCHEN SCHÜLERIN IN DER SCHULE DIE GESICHTSVERSCHLEIERUNG (DEN NIQAB) VERBIETEN?

Kurzantwort: Das Tragen einer Gesichtsverschleierung (Niqab) ist grundsätzlich von der Religionsfreiheit in Artikel 4 Grundgesetz geschützt. Die Bundesländer können jedoch eine gesetzliche Grundlage für ein Gesichtsverschleierungsverbot in der Schule schaffen. Dann könnte eine öffentliche Schule die Gesichtsverschleierung verbieten.

Ein Verbot der Gesichtsverschleierung (Niqab) an einer öffentlichen Schule würde zwar die muslimische Schülerin in ihrem Grundrecht auf Religionsfreiheit gemäß Artikel 4 des Grundgesetzes verletzen, könnte aber u.U. gerechtfertigt sein.
Zunächst stellt sich die Frage, ob das Tragen der Vollverschleierung überhaupt von der Religionsfreiheit gemäß Artikel 4 des Grundgesetzes geschützt ist. So ist in der Presse oder im Fernsehen zum Teil die Rede davon, dass die Vollverschleierung kein islamisches Gebot sei und schon aus diesem Grund von der Religionsfreiheit nicht umfasst sein könne. Die Folge dieser Auffassung wäre, dass das Tragen der Vollverschleierung nur von der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes geschützt wäre und damit sehr viel leichter eingeschränkt werden könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass bei der Beurteilung, ob ein Verhalten von der Religionsfreiheit umfasst ist oder nicht, das Selbstverständnis des Betroffenen und der jeweiligen Religionsgemeinschaft ausschlaggebend ist.1   Das heißt nicht, dass der Betroffene, jegliches Tun, dass er für sich selber als religiös begründet erachtet, auch als solches immer rechtlich anerkannt bekommt. Vielmehr muss dem Verhalten nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild hinreichend plausibel eine religiöse Motivation zugrunde liegen, damit es vom Schutzbereich des Artikel 4 Grundgesetz umfasst sein kann.2   Die Plausibilitätsprüfung fungiert hier als Korrektiv, um die Gefahr des Missbrauchs einzuschränken.3   Eine weiterreichende Bewertung durch den Staat erfolgt jedoch nicht, denn es ist nicht die Aufgabe der Gerichte und damit des Staates über Glaubensregeln verbindliche Entscheidungen zu treffen.4   Schließlich gibt es vor allem im Islam verschiedene Strömungen, die jede für sich das Grundrecht der Religionsfreiheit in Anspruch nehmen kann.5   Dabei ist nicht erforderlich, dass es sich um eine mehrheitlich anerkannte und befolgte Regel in der jeweiligen Religion handelt.6   Auch solche, die minderverbreitet und geübt sind, werden anerkannt.7   Der Niqab, so wie er im Jemen und in Saudi-Arabien getragen wird, kann daher grundsätzlich dem Schutz der Religionsfreiheit unterfallen.8
Somit bedarf es bei einer Einschränkung des Grundrechts der Niqab-Trägerin durch ein entsprechendes Verbot des Lehrers/Direktors einer gesetzlichen Grundlage. Ohne eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage darf der Lehrer/Direktor das Tragen des Niqabs nicht verbieten.9
In einem Fall in Niedersachsen gab es nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Osnabrück im niedersächsischen Landesrecht keine derartige gesetzliche Grundlage, die ein Niqab-Verbot hätte stützen können.10  Daher wäre es hier ausreichend gewesen, wenn die Betroffene hinreichend dargelegt hätte, dass der Niqab für sie subjektiv zu einer unerlässlichen religiösen Pflicht zählt.11   Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ist der Betroffenen dies jedoch nicht geglückt und sie hatte vor Gericht keinen Erfolg.12   In der Folge hat sich das Land Niedersachsen dazu entschieden, eine entsprechende gesetzliche Grundlage für ein Verbot zu schaffen.13
Ähnlich wie das VG Osnabrück entschied das OVG Hamburg. Eine Anordnung an eine Schülerin, die aus religiösen Gründen einen Niqab trägt, im Unterricht das Gesicht zu zeigen, bedarf einer gesetzlichen Grundlage, die es in Hamburg nicht gibt.14 Wie auch in Niedersachen ist auf Reaktion auf das Urteil ein gesetzliches Verbot in Planung.15
In Bayern scheiterte ebenfalls eine Niqab-Trägerin vor Gericht, die gegen ein Gesichtsverschleierungsverbot in einer Berufsoberschule klagte.16   Hier wurde die Pflicht der Schülerin, mit geeigneter Bekleidung am Unterricht teilzunehmen, auf eine landesgesetzliche Regelung gestützt.17   Gemäß Artikel 56 Absatz 4 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) haben sich alle Schüler/innen so zu verhalten, dass die Aufgabe der Schule erfüllt und das Bildungsziel erreicht werden kann. Ferner haben die Schüler/innen alles zu unterlassen, was den Schulbetrieb oder die Ordnung der von ihnen besuchten Schule stören könnte. Das Gericht war der Auffassung, dass dazu auch das Tragen geeigneter Kleidung gehört und ein Niqab diese Anforderung nicht erfüllt.18   Der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag werde durch eine Gesichtsverschleierung so stark behindert, dass der Staat „nicht mehr oder nur unzureichend“ seinem Auftrag nachkommen könne.19  Bei dem Niqab sei weder eine eindeutige Identifikation noch eine offene Kommunikation im Unterricht möglich.20   Es läge hier nicht nur eine abstrakte Möglichkeit der Störung des Unterrichtsablaufs vor, sondern eine konkrete, erhebliche Beeinträchtigung dessen.21   Daher sei beim Niqab-Verbot dann keine ausdrückliche Regelung bzgl. des Tragens einer gesichtsverhüllenden Verschleierung wie beim Kopftuchtragen gemäß dem Parlamentsvorbehalt und der Wesentlichkeitslehre mehr erforderlich.22   Die Pflicht mit geeigneter Bekleidung am Unterricht teilzunehmen, ergebe sich mit hinreichender Bestimmtheit aus der relevanten Vorschrift des Artikels 56 Absatz 4 BayEUG.23
Inzwischen hat sich die relevante Norm geändert. Der neu eingefügte Artikel 56 Absatz 4 Satz 2 BayEUG bestimmt nun ausdrücklich: „Sie (die Schüler/innen) dürfen insbesondere in der Schule und bei Schulveranstaltungen ihr Gesicht nicht verhüllen, es sei denn, schulbedingte Gründe erfordern dies; zur Vermeidung einer unbilligen Härte können die Schulleiterin oder der Schulleiter Ausnahmen zulassen.“ Der Bayerische Landesgesetzgeber stellte jedoch klar, dass sich ein Gesichtsverhüllungsverbot schon hinreichend aus den bestehenden Artikel 56 Absatz 4 Satz 1 und Satz 3 BayEUG ergebe und der neu eingefügte Satz nur als eine klarstellende Konkretisierung zu verstehen sei.24   In der juristischen Literatur wird größtenteils vertreten, dass ein Verbot, unabhängig vom Alter und der Schulpflichtigkeit des Kindes, verhältnismäßig sein kann.25
Der Gesichtsschleier stelle ein „objektives Unterrichtshindernis“ dar. Weder könne die Schülerin zwecks Anwesenheitskontrolle identifiziert werden, noch könne sie am Unterricht wirklich teilnehmen. Durch die Tatsache, dass Mimik und Gestik der verschleierten Schülerin durch die Lehrerin nicht wahrgenommen werden könne, sei die Lehrerin in ihrer „pädagogischen Interaktion“ eingeschränkt. Eine Erziehung vor allem in sozialem Verhalten sei folglich nicht möglich. Um den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag nach Artikel 7 Absatz 1 Grundgesetz gerecht werden zu können, könne somit in das Grundrecht der Schülerin aus Artikel 4 Grundgesetz eingegriffen werden.

BVerfG, Beschluss v. 27.01.2015, Az. 1 BVR 471/10, 1 BVR 1181/10, Rn.  86.

2 BVerfG, Beschluss v. 27.01.2015, Az. 1 BVR 471/10, 1 BVR 1181/10, Rn.  85 f.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG-Komm., 8. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 18f.

Sacksofsky, Scharia, Beschneidung, Islam in der Schule: Antworten des deutschen Rechts auf Fragen, die das Zusammenleben mit Muslimen aufwirft, Arbeitspapier des Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt/M. Nr. 08/2016, Rn.  12.

4 BVerfG, Beschluss v. 27.01.2015, Az. 1 BVR 471/10, 1 BVR 1181/10, Rn.  86; Sacksofsky, Scharia, Beschneidung, Islam in der Schule: Antworten des deutschen Rechts auf Fragen, die das Zusammenleben mit Muslimen aufwirft, Arbeitspapier des Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt/M. Nr. 08/2016, Rn.  12.

5 Sacksofsky, Scharia, Beschneidung, Islam in der Schule: Antworten des deutschen Rechts auf Fragen, die das Zusammenleben mit Muslimen aufwirft, Arbeitspapier des Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt/M. Nr. 08/2016, Rn.  12.

VG Osnabrück, Beschluss v. 22.08.2016, Az. 1 B 81/16, Rn. 31.

VG Osnabrück, Beschluss v. 22.08.2016, Az. 1 B 81/16, Rn. 31.

VG Osnabrück, Beschluss v. 22.08.2016, Az. 1 B 81/16, Rn. 31.

9 Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, S. 9 (10).

10 VG Osnabrück, Beschluss v. 22.08.2016, Az. 1 B 81/16, Rn. 37f.

11 VG Osnabrück, Beschluss v. 22.08.2016, Az. 1 B 81/16, Rn. 39.

12 VG Osnabrück, Beschluss v. 22.08.2016, Az. 1 B 81/16, Rn. 26.

13 Schulgesetzänderung in Niedersachsen: Vollverschleierung soll verboten werden. In: Legal Tribune Online, 04.08.2017, https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/schulgesetz-aenderung-niedersachsen-vollverschleierung-verbot/, zuletzt abgerufen am 07.07.2020.

14 OVG Hamburg, Beschluss v. 29.01.2020, Az. 1 Bs 6/20, Rn. 24.

15 OVG Hamburg zur Vollverschleierung: 16-Jährige darf mit Niqab zur Schule. In: Legal Tribune Online, 03.02.2020,https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/ovg-hamburg-1bs620-verschleierung-niqab-verbot-schule-religion-glaubensfreiheit-islam/ , zuletzt abgerufen am 20.11.2022

16 VGH Bayern, Beschluss v. 22.04.2014, Az. 7 CS 13.2592,7 C 13.2593; VG Regensburg, Beschluss v. 25.11.2013, Az. RO 1 S 13.1842.

17 VGH Bayern, Beschluss v. 22.04.2014, Az. 7 CS 13.2592,7 C 13.2593, Rn. 25.

18 VGH Bayern, Beschluss v. 22.04.2014, Az. 7 CS 13.2592,7 C 13.2593, Rn. 25.

19 VGH Bayern, Beschluss v. 22.04.2014, Az. 7 CS 13.2592,7 C 13.2593, Rn. 25.

20 VGH Bayern, Beschluss v. 22.04.2014, Az. 7 CS 13.2592,7 C 13.2593, Rn. 25.

21 VGH Bayern, Beschluss v. 22.04.2014, Az. 7 CS 13.2592,7 C 13.2593, Rn. 25.

22 VGH Bayern, Beschluss v. 22.04.2014, Az. 7 CS 13.2592,7 C 13.2593, Rn. 25.

23 VGH Bayern, Beschluss v. 22.04.2014, Az. 7 CS 13.2592,7 C 13.2593, Rn. 25.

24 Bayerische Landtag v. 28.03.2017, Drucksache 17/1631, S. 8, abrufbar unter: http://www1.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP17/Drucksachen/Basisdrucksachen/0000010000/0000010175.pdf, zuletzt abgerufen am 07.07.2020.

25 Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schule, in: ZAR 2009, S. 9 (12); ebenso: Germann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 37. Ed. 15.5.2018, Art. 4 Rn. 51.4, Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages v. 26.01.2017, Schule u. Religionsfreiheit- Wäre ein Kopftuchverbot für Schülerinnen rechtlich zulässig?, Az. WD 3 – 3000 – 277/16, S. 14; Büscher/Glasmacher, Schule und Religion, in: JuS 2015, S. 513 (515); anders dagegen: Beaucamp/Beaucamp, In dubio pro liberta, in: DÖV 2015, S. 174 (179 f.).

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