© Zurijeta/Shutterstock.com

Zulässiges Kopftuch einer Lehrerin in der öffentlichen Gemeinschaftsschule

BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10

Sachverhalt
Zwei kopftuchtragende Musliminnen, die jeweils als Lehrerin bzw. Sozialpädagogin an öffentlichen Gemeinschaftsschulen beschäftigt sind, legten nach erfolglosen Klagen vor den Arbeitsgerichten1 Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG ein, mit dem sie diese Entscheidungen und mittelbar auch die landesgesetzliche Regelung des Landes Nordrhein-Westfalen angriffen, auf dessen Grundlage ihnen das Tragen des Kopftuches in der Schule verboten wurde.2 Nachdem sich eine der Beschwerdeführerinnen weigerte, das Kopftuch abzusetzen, wurde sie abgemahnt und später gekündigt.3 Die andere ersetzte ihr Kopftuch mit Schal und Wollmütze und wandte sich mittels Klage bereits gegen die hierauf ausgesprochene Abmahnung.4 Die landesgesetzliche Regelung des § 57 Abs. 4 des Schulgesetzes von NRW (SchulG NW) bestimmte, dass Lehrerinnen und Lehrer keine politischen oder religiösen Bekundungen in der Schule abgeben dürfen.5

Gründe
Das BVerfG entschied, – entgegen der von den Arbeitsgerichten vertretenen Auffassung – dass die landesgesetzlichen Regelungen nur nach Maßgabe einer der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gerecht werdenden einschränkenden Auslegung6 mit dem GG vereinbar seien.7 Die in Frage stehende Regelung sah ein Verbot bereits dann vor, wenn lediglich eine abstrakte Gefahr für die entgegengesetzten verfassungsrechtlichen Positionen, der negativen Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler, dem Elterngrundrecht oder dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag bestand.8 Das BVerfG geht jedoch davon aus, dass keiner von diesen verfassungsrechtlichen Positionen ein solches Gewicht zukomme, dass ein Verbot bereits aufgrund einer abstrakten Gefahr rechtfertigen würde.9 Ein so verstandenes Verbot gehe zu weit und sei deshalb unverhältnismäßig.10 Die Glaubensfreiheit erstrecke sich auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und nach ihr zu leben.11 Sofern die religiöse Motivation hinreichend plausibel erscheine, was bei den Beschwerdeführerinnen der Fall sei,12 komme ihnen das Grundrecht der Glaubensfreiheit zu Gute, obgleich sie in den staatlichen Aufgabenbereich der öffentlichen Schule eingegliedert seien.13 Ein Verbot sei nur dann verhältnismäßig, wenn eine hinreichend konkrete Gefahr für die entgegengesetzten verfassungsrechtlichen Positionen vorhanden sei.14 Dies sei aber, solange die Beschwerdeführerinnen nicht für ihren Glauben werben,15 im Regelfall nicht alleine durch das Tragen des Kopftuches der Fall.16 Ferner erklärte das BVerfG den § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG NW aufgrund ungerechtfertigter Privilegierung christlicher Bekundungen für verfassungswidrig, in dem es hieß: „Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1.“.17

Einordnung in die Rechtsprechung
Mit der Entscheidung änderte der erste Senat des BVerfG die Rechtsprechung der Kopftuch-I-Entscheidung des zweiten Senats aus dem Jahr 2003. Danach war ein generelles Kopftuchverbot für Lehrerinnen auf Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung zulässig.18 In der Folge erließen einige Bundesländer eine solche Verbotsgrundlage mit der Folge, dass es in diesen Bundesländern für muslimische Lehrerinnen nicht möglich war, während der Arbeit ihr Kopftuch zu tragen. Dabei hielten die Bundesländer zum Teil an Privilegierungen von christlichen Symbolen fest. Die auf der Kopftuch-I-Entscheidung basierenden Kopftuchverbote wurden zunächst durch das Urteil des BVerwG vom 26. Juni 200819 aufgeweicht. Hiernach sei es unverhältnismäßig, die für Lehrerinnen bestehenden Verbote auch auf Lehramtsreferendarinnen anzuwenden, da ihnen damit der Zugang zum Lehrerberuf ohne zureichenden Grund gänzlich verwehrt werde.20 Durch die vorliegende Entscheidung wurden die Verbote letztlich vollständig gekippt.

1 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 11 ff., 30 ff.

2 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 38.

3 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 28 f.

4 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 8 ff.

5 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 2.

6 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 80 ff.

7 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 78 f.

8 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 103.

9 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 103.

10 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 82.

11 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 85 f.

12 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 88 f.

13 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 80, 84, 86 f.

14 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 103.

15 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 105.

16 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 116.

17 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 123.

18 BVerfG v. 24.09.2003 – 2 BvR 1436/02.

19 BVerwG v. 26.06.2008 - 2 C 22.07.

20 BVerwG v. 26.06.2008 - 2 C 22.07, Rn. 11.

Um Ihnen ein besseres Nutzererlebnis zu bieten, verwenden wir Cookies. Durch Nutzung dieser Seite stimmen Sie unserer Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.