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Nichtteilnahme an einer Klassenfahrt aus religiösen Gründen

OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02

Sachverhalt
Eine muslimische Schülerin legte Beschwerde gegen die Ablehnung ihres Antrags einer einstweiligen Anordnung ein, mit der sie die Verpflichtung des Antragsgegners begehrte, sie von der Teilnahme an einer Klassenfahrt zu befreien.1

Gründe
Das OVG wies die Beschwerde zurück und führte aus, dass das Verwaltungsgericht zutreffend die Herbeiführung eines schonenden Ausgleichs zwischen den Grundrechten der Antragstellerin aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG versuchte, indem es der  Antragstellerin zusprach,  gemeinsam mit ihrem 15 Jahre alten Bruder als „Mahram“ an der Klassenfahrt teilnehmen zu können.2 Diese Möglichkeit sei für die Antragstellerin jedoch unzumutbar,  sofern der Bruder sich so stark und nachhaltig weigere, die Antragstellerin zu begleiten, dass er mit erzieherischen Mitteln hierzu nicht bewegt werden könne und die Familie an dem Konflikt zu zerbrechen drohe.3 Dennoch sei ihrer Beschwerde nicht stattzugeben, da die Antragstellerin keine Unterrichtsbefreiung gemäß § 11 Abs. 1 der Allgemeinen Schulordnung des Landes NRW (ASchO NRW) benötige.4 Sie habe ein eindrückliches Bild über die religiösen Beschränkungen und Zwänge, denen sie unterworfen sei,  gezeichnet und  dargestellt, welche Ängste sich aus der Teilnahme an einer Klassenfahrt für sie ergeben würden.5 Von der ständigen Furcht religiöse Gebote nicht einhalten zu können,6 sei sie so sehr geprägt, dass sie ohne eine nach ihren religiösen Vorstellungen geeignete Begleitperson nicht an der Klassenfahrt teilnehmen könne.7 Diese Zwänge und Ängste erreichten bei ihr einen Krankheitswert ähnlich einer partiell psychisch Behinderten, die behinderungsbedingt ohne Begleitung nicht reisen könne.8 Aus diesem Grunde sei bereits der § 9 Abs. 1 ASchO NRW anwendbar, wonach sie begründet verhindert sei, an der Klassenfahrt teilzunehmen.9

Einordnung in die Rechtsprechung
Die Frage der Teilnahme an einer Klassenfahrt ist nur in solchen Bundesländern relevant, in denen Teilnahme auch verpflichtend ist. So ist in Berlin die Teilnahme an Klassenfahrten zwar erwünscht, doch die Erziehungsberechtigten bzw. volljährige Schüler:innen können selbst über die Teilnahme entscheiden und alternativ während der Klassenfahrt auch Klassenunterricht besuchen.10 

In Nordrhein-Westfalen ist die Teilnahme hingegen gemäß § 43 Abs. 1 SchulG NRW verpflichtend, doch eine Befreiung von der Teilnahme ist aus wichtigem Grund in Ausnahmefällen möglich. Das OVG wies zwar die Beschwerde zurück, gab der Antragstellerin aber im Ergebnis auf anderem Wege die von ihr begehrte Möglichkeit an der Klassenfahrt nicht teilzunehmen. Die Entscheidung des OVG wurde in der Literatur kritisiert, weil die Richter religiös motivierten Befürchtungen Krankheitswert beimaßen, ohne ein Sachverständigengutachten einzuholen.11 Jedenfalls wird sich ein Krankheitswert nur in absoluten Ausnahmefällen begründen lassen.

Im Nachgang des Urteils ergingen Entscheidungen des BVerfG12 und des BVerwG,13 die die Voraussetzungen für eine Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen präzisierten, jedoch auf eine mögliche krankheitsbedingte Verhinderung nicht eingingen. Im Lichte dieser Rechtsprechung sind Unterrichtsbefreiungen nur in Ausnahmefällen möglich. Offen bleibt, ob die religiöse Vorgabe, nur mit einem „Mahram“ reisen zu dürfen und die Unzumutbarkeit der Begleitung durch einen „Mahram“ eine Befreiung von einer Klassenfahrt auch im Lichte der jüngsten Rechtsprechung rechtfertigen können.




1 OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02, Rn. 2.

2 OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02, Rn. 3.

3 OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02, Rn. 3.

4 OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02, Rn. 4.

5 OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02, Rn. 4.

6 OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02, Rn. 5.

7 OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02, Rn. 6.

8 OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02, Rn. 6.

9 OVG NRW v. 17.01.2002 – 19 B 99/02, Rn. 6.

10 Informationsblatt zu Schülerfahrten von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, abrufbar unter https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/gute-schule/schuelerfahrten/, zuletzt abgerufen am 27.07.2023

11 Vgl. Vahle Jürgen, DVP 2003, 509; Rixen Stephan, NJW 2003, 1712.

12 BVerfG v. 08.11.2016 – 1 BvR 3237/13.

13 BVerwG v. 11.09.2013 – 6 C 25.12.

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