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Kopftuch in der Kindertagesstätte

BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11

Sachverhalt
Eine kopftuchtragende muslimische Erzieherin legte Verfassungsbeschwerde gegen die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen ein, die die Abmahnung der Beschwerdeführerin aufgrund der Weigerung ihr Kopftuch während dem Dienst abzulegen, auf Grundlage des §7 Abs. 6 S. 1 KiTaG a.F. für rechtmäßig erachteten.1

Gründe
Das BVerfG stellt in seiner Entscheidung klar, dass es die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden habe, weshalb die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet sei.2 Die angegriffenen arbeitsgerichtlichen Entscheidungen verletzten die Beschwerdeführerin in ihrer Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.3 Bei Anwendung des § 7 Abs. 6 S. 1 KiTaG a.F. hätten die Fachgerichte die Bedeutung der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Beschwerdeführerin unzutreffend eingeschätzt.4 Ein Verbot allein wegen der abstrakten Gefahr für die widerstreitenden Verfassungsgüter sei unangemessen und deshalb unverhältnismäßig, sofern die Bekundung nachweislich auf ein als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot zurückzuführen sei.5 Die einschlägige Verbotsnorm bedürfe einer verfassungskonformen Auslegung, so dass eine hinreichend konkrete Gefahr für die widerstreitenden Verfassungsgüter erforderlich sei.6 Der negativen Glaubensfreiheit der Kinder gemäß Art. 4 Abs. 1 GG und dem elterlichen Erziehungsrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG als widerstreitende Verfassungsgüter käme kein solches Gewicht zu, dass bereits die abstrakte Gefahr ihrer Beeinträchtigung ein Verbot rechtfertigen könnten.7 Zwar sei das Einbringen religiöser und weltanschaulicher Bezüge durchaus mit Beeinflussungs- und Konfliktpotential verbunden,8 jedoch gewähre die negative Glaubensfreiheit keinen Konfrontationsschutz, insbesondere dann nicht, wenn keine vom Staat geschaffene, sondern lediglich geduldete Situation vorliege.9 Solange die Beschwerdeführerin nicht für ihren Glauben werbe und über ihr Erscheinungsbild hinaus die Kinder zu beeinflussen versuche, sei das Tragen des Kopftuches lediglich eine Wiederspiegelung der religiös-pluralistischen Gesellschaft und werde durch das Auftreten anderer Erzieherinnen ohne Kopftuch relativiert.10 Darüber hinaus hätte die Tatsachenfeststellung der Fachgerichte keinerlei Anhaltspunkte für eine hinreichend konkrete Gefahr ergeben, die von der Beschwerdeführerin ausginge.11

Einordnung in die Rechtsprechung
Die Entscheidung festigt die mit der Kopftuch -II- Entscheidung12 durch den ersten Senat entwickelten Grundsätze zum Kopftuch von Lehrerinnen in der Schule und weitet deren Anwendung auch auf Erziehrinnen aus, die in Kindertagesstätten in staatlicher Trägerschaft beschäftigt sind. Genauso wie für Lehrerinnen müssen auch für Erziehrinnen Verbotsvorschriften dahingehend ausgelegt werden, dass nicht bereits eine abstrakte Gefahr für ein Verbot ausreicht, sondern es muss eine hinreichend konkrete Gefahr für die widerstreitenden Verfassungsgüter belegt und begründet werden. Die Entscheidungen der Arbeitsgerichte ergingen noch auf Basis der Kopftuch -I- Entscheidung13 des zweiten Senats, der ein Verbot auch aufgrund einer abstrakten Gefahr billigte, solange eine Gesetzesgrundlage hierfür vorhanden ist.


1 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 4 ff.

2 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 44.

3 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 51, 72.

4 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 53.

5 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 55.

6 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 54, 70.

7 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 61, 63.

8 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 63.

9 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 64 f.

10 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 65.

11 BVerfG v. 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, Rn. 73.

12 BVerfG v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10.

13 BVerfG v. 24.09.2003 – 2 BvR 1436/02.

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