Darf ein Tier ohne Betäubung geschlachtet werden?
Kurzantwort: In Deutschland darf ein Tier nur in Ausnahmefällen ohne vorherige Betäubung geschlachtet werden. Ein Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung kann zwar auf religiöse Schlachtvorgaben gestützt werden, jedoch sind in der Praxis die Behörden bei der Beurteilung solcher Anträge sehr streng. Im Ergebnis erhalten Muslime daher nur sehr selten Ausnahmegenehmigungen, um ohne vorherige Betäubung zu schlachten.
Nach § 4a Tierschutzgesetz (TierSchG) darf ein warmblütiges Tier grundsätzlich nur dann geschlachtet werden, wenn es vorher betäubt wurde. Die Ausnahme in §4a Abs. II Nr. 2 TierSchG bestimmt, dass für Bedürfnisse von Angehörigen einer Religionsgemeinschaft eine Ausnahmegenehmigung für eine Schlachtung ohne Betäubung (Schächtung) erteilt werden kann, wenn zwingende Vorschriften der Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben.
Im Januar 2002 urteile das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über eine Klage eines muslimischen Metzgers gegen die Ablehnung einer solchen Ausnahmegenehmigung nach § 4a Abs. II Nr. 2 TierSchG.1 Das Gericht entschied, dass die Ablehnung den Metzger in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz verletzt.2
Dem Begriff der „Religionsgemeinschaft“ in § 4a Abs. II Nr. 2 TierSchG genüge dabei, dass der Antragssteller einer Gruppe von Menschen angehöre, die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbinde.3 Der Antragssteller müsse substantiiert und nachvollziehbar darlegen, dass nach der gemeinsamen Glaubensüberzeugung der Mitglieder einer Gemeinschaft der Verzehr von Fleisch zwingend eine betäubungslose Schlachtung voraussetze.4 Dass es im Islam auch Regelungen gebe, die das betäubungslose Schlachten erlauben, reiche nicht, um den zwingenden Charakter der Glaubensvorschrift zu verneinen.5 Dem Tierwohl könne durch Nebenbestimmungen und die Überwachung ihrer Einhaltung und der Überprüfung der Sachkunde und der persönlichen Eignung des Antragsstellers ausreichend Rechnung getragen werden.6
In der Praxis werden Anträge auf eine Ausnahmegenehmigung zum Schächten regelmäßig aus formalen Gründen abgelehnt, weil die Vorgaben des BVerfG nicht erfüllt werden.7
Im Februar 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass das Fleisch von Tieren, die ohne Betäubung geschlachtet wurden, nicht den Vorgaben einer Zertifizierung mit einem EU-Bio-Siegel entspricht. Für einen muslimischen Metzger ist es seitdem nicht mehr möglich ist, durch eine betäubungslose Schlachtung gewonnenes Fleisch mit einem Bio-Siegel zu versehen.8
In einem weiteren Urteil zum Schächten im Dezember 2020 entschied der EuGH zu Gunsten des belgischen Gesetzgebers, dass er entgegen Art. 4 Abs. 4 der EU-Schlachtverordnung9 ein betäubungsloses Schlachten vollständig verbieten kann und die Möglichkeit der Schlachtung mittels einer Elektrokurzzeitbetäubung die Interessen der muslimischen und jüdischen Bevölkerung ausreichend berücksichtige.10 In Deutschland ergeben sich für Muslime und Juden durch diese Entscheidung keine Veränderung, da das Bundesverfassungsgericht die Religionsfreiheit bisher stärker gewichtet als der EuGH.
1 BVerfG v. 15.02.2002 – 1 BvR 1783/99.
2 BVerfG v. 15.02.2002 – 1 BvR 1783/99, Rn. 59.
3 BVerfG v. 15.01.2002 – 1 BvR 1783/99, Rn. 55.
4 BVerfG v. 15.01.2002 – 1 BvR 1783/99, Rn. 57.
5 BVerfG v. 15.01.2002 – 1 BvR 1783/99, Rn. 57.
6 BVerfG v. 15.01.2002 – 1 BvR 1783/99, Rn. 57.
7 Ludwig, ZLR 2020, 564, 569.
8 EuGH v. 26.02.2019 – C-497/17; vgl. die Stellungnahme hierzu: https://www.recht-islam.de/stellungnahmen/stellungnahme-zum-eugh-urteil-vom-26022019-in-der-rechtssache-oaba-ministre-de-lagriculture-et-de-lalimentation-ua/.
9 Verordnung EG Nr. 1099/2009 – abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009R1099&from=ES – zuletzt abgerufen am 02.07.2023.
10 EuGH v. 17.12.2020 – C-336/19; vgl. die Stellungnahme hierzu: https://www.recht-islam.de/stellungnahmen/stellungnahme-zum-eugh-urteil-c-336-19-vom-17122020-in-der-rechtssache-centraal-israeli-tisch-consistorie-van-belgie-u-a/.