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Rechtsurteile

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Befreiung muslimischer Schülerinnen vom Sportunterricht

Die Antragssteller haben in ausreichender Weise dargelegt, dass das Tragen von Sportbekleidung sie einem verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt aussetzt und deshalb nur eine Befreiung vom Sportunterricht diesen Konflikt zu lösen vermag. (Leitsatz der Redaktion)


(Sehr alt und so nicht mehr vertreten siehe dazu BVerwG 11.09.2013 - 6 C 25.12)

Gründe:

 

Die Ast. sind Moslems und begehren im Wege der einstweiligen Anordnung die Befreiung ihrer fünf minderjährigen Töchter vom Schulsport. Der Antrag war in zweiter Instanz erfolgreich.

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Dem auf Befreiung aller fünf Töchter vom Schulsport gerichteten Anordnungsbegehren steht nicht entgegen, daß die beiden ältesten Töchter E, geboren am 2.12.1976, und C, geboren am 26.8.1974, nach § 5 S. 1 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung RKEG vom 15.7.1921 […] seit der Vollendung ihres 14. Lebensjahres allein darüber zu entscheiden haben, zu welchem Bekenntnis sie sich halten wollen, und hierzu auch die Entscheidung gehören mag, ob die Teilnahme am Sportunterricht dem eigenen Bekenntnis entgegensteht. Durch die zitierte Vorschrift wird zwar das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 II 1 GG eingeschränkt, so daß eine das religiöse Bekenntnis betreffende selbständige Entscheidung des Kindes von den Eltern zu respektieren ist. Mit der Religionsmündigkeit des Kindes erlischt indes das elterliche Erziehungsrecht auf religiösem Gebiet nicht schlechthin. Aus § 5 S. 1 RKEG läßt sich insbesondere keine so weitgehende Einschränkung des Elternrechts entnehmen, daß diese ihr Kind im religiösen Bereich sozusagen seinem Schicksal überlassen und es in seinen Bemühungen um die Gewinnung eines eigenen religiösen Standorts allein lassen müßten. […] Hier ist nichts dafür ersichtlich, daß die Töchter C und E der Ast. zur Teilnahme am Sportunterricht einen anderen religiösen Standpunkt einnehmen als ihre Eltern. […]

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Die Ast. haben den Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Denn die zwischen den Beteiligten streitige Frage der Teilnahme der Töchter der Ast. am Sportunterricht geht nach Aktenlage bis zum Jahre 1987 zurück. Einen Antrag auf Befreiung seiner Tochter F stellte der Ast. zu 2 am 8.2.1989; der Antrag wurde nach mehr als einjähriger Bearbeitungsdauer erst mit Bescheid - ohne Rechtsbehelfsbelehrung – der Orientierungsstufe im Schulzentrum B. vom 8.5.1990 abgelehnt. Der hiergegen gerichtete Widerspruch der Ast. Vom 3.12.1990, in dem die Ast. zugleich für ihre Kinder C, E, S und H Befreiung vom Sportunterricht beantragt haben, ist - soweit ersichtlich - bislang nicht beschieden. Der Ag. Hat vielmehr mit Zwischenbescheid vom 21.12.1990 mitgeteilt, dem Antrag auf vorläufige Befreiung der Kinder C, E, S und H bis zur bestandskräftigen Entscheidung in dem Widerspruchsfall F könne nicht gefolgt werden. Eine detaillierte Begründung sowie der Widerspruchsbescheid in der Verwaltungsrechtssache F werde die Ast. baldmöglichst zugehen. Im Hinblick darauf, daß im übrigen gegen die Ast. wegen der Nichtteilnahme ihrer Kinder am Sportunterricht bereits Bußgeldverfahren eingeleitet worden sind, erscheinen Sofortmaßnahmen zur vorläufigen Regelung der streitigen Rechtsfrage unerläßlich. Weder den Ast. noch dem Ag. und den beteiligten Schulen ist es zumutbar, den gegenwärtigen Zustand, der sich ausweislich der Vorgänge auch auf die Benotung in den Schulzeugnissen auswirkt, bis zum rechtskräftigen Abschluß eines Hauptsacheverfahrens weiter unverändert hinzunehmen.

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Die Ast. haben - entgegen der Auffassung des VG - auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Denn sie haben in einer für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ausreichenden Weise dargelegt, daß sie und ihre Töchter durch deren Teilnahme am Sportunterricht wegen des dabei notwendigen Tragens von Sportkleidung einem verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt ausgesetzt würden.

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Die in Niedersachsen auch für Ausländer bestehende allgemeine Schulpflicht verpflichtet grundsätzlich zur Teilnahme an allen Unterrichtsveranstaltungen einschließlich des Sportunterrichts; die Eltern haben für die Erfüllung dieser Pflicht zu sorgen (§ 53 I NdsSchulG). Im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist es allerdings geboten, beim Vorliegen wichtiger Gründe die Möglichkeit zur Befreiung vom Unterrichtsbesuch im Einzelfall zu eröffnen […]. Dies ist in Niedersachsen mit den Durchführungsbestimmungen zu den §§ 42 und 46 bis 53 NdsSchulG […] geschehen. Danach entscheidet der Schulleiter über die Befreiung eines Schülers vom Unterricht bis zu vier Wochen nach den ggf. von der Konferenz beschlossenen Grundsätzen […]. Hinsichtlich der Befreiung vom Sportunterricht ist im Erlaß ergänzend bestimmt, daß diese auf einen schriftlich begründeten Antrag der Erziehungsberechtigten oder des volljährigen Schülers bis zur Dauer eines Monats vom Fachlehrer, darüber hinausgehend vom Schulleiter ausgesprochen werden kann […]. Die Gründe, aus denen eine Befreiung vom (Sport-)Unterricht gewährt werden kann, sind im Erlaß nicht generell umschrieben. In Nr. 1.2 wird für Schüler, die nicht einer evangelischen Kirche oder der Katholischen Kirche angehören, für einen Feiertag ihrer Religionsgemeinschaft die Erteilung von Unterrichtsbefreiung allgemein angeordnet. Die Befreiung vom Sportunterricht gem. Nr. 1.3 ist nach dem Erlaß offensichtlich nur beim Vorliegen gesundheitlicher Gründe, die auf Verlangen durch die Vorlage eines ärztlichen oder amtsärztlichen Attests nachzuweisen sind, vorgesehen. Darüber hinaus kommt aber, ohne daß dies einer besonderen Regelung bedürfte, neben der Befreiung vom Sportunterricht aus gesundheitlichen Gründen auch eine Befreiung aufgrund höherrangigen Rechts in Betracht.

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Im vorliegenden Fall treten das Erziehungsrecht der Ast. (Art. 6 II 1 GG) sowie ihre und ihrer Töchter Glaubens- und Religionsfreiheit (Art. 4 I GG) und der durch Art. 7 I GG dem

Staat erteilte verfassungsrechtliche Bildungs- und Erziehungsauftrag miteinander in Konflikt. Denn zu der in Art. 4 I GG grundgesetzlich besonders geschützten Freiheit der Religionsausübung gehören nicht nur die eigentlichen kultischen Übungen, sondern darüber hinaus auch alle Äußerungen religiösen Lebens, z. B. die Beachtung religiöser Bräuche und die religiöse Erziehung der Kinder, das Recht des einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, und grundsätzlich auch die Freiheit, religiös bedingte Bekleidungsvorschriften zu beachten […]. Das in Art. 6 II 1 GG verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht beinhaltet auch, den Kindern die eigene religiöse und weltanschauliche Position zu vermitteln und Maßnahmen abzuwehren, die von außen in diesen Bereichen eingreifen und/oder ein den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern widersprechendes Verhalten des Kindes fordern […]. Die Schule andererseits kann im Rahmen des von Art. 7 I GG dem Staat erteilten verfassungsrechtlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages grundsätzlich unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen. Der staatliche Erziehungsauftrag ist eigenständig und sowohl der Glaubens- und Religionsfreiheit als auch dem Erziehungsrecht der Eltern gleichgeordnet […]. Die hieraus sich ergebenden verfassungsimmanenten Spannungen sind unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes nach dem Prinzip der (praktischen) Konkordanz zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen […]. Es ist mithin eine Güterabwägung zwischen dem staatlichen Erziehungsauftrag auf der einen Seite und dem Erziehungsrecht der Ast. sowie ihrer und ihrer Töchter Glaubens- und Religionsfreiheit auf der anderen Seite vorzunehmen. Dabei ist der den Ast. und ihren Töchtern gewährleistete verfassungsrechtliche Schutz als höherrangig zu bewerten.

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Den Ast. und ihren Töchtern kann eine mißbräuchliche Inanspruchnahme ihrer Grundrechte nicht vorgehalten werden. Als gläubige Moslems fühlen sie sich durch die Bekleidungsregeln des Koran verpflichtet zu verhindern, daß sich ihre Töchter in Gegenwart fremder Personen beiderlei Geschlechts entblößen - ausgenommen hiervon sind Gesicht und Hände - oder in deren Anwesenheit durchsichtige, hautenge oder eine Bekleidung tragen, durch die die Aufmerksamkeit der Fremden auf die zu bedeckende Blöße gelenkt wird. Nach dem Inhalt der Verwaltungsvorgänge und der Gerichtsakten besteht kein Zweifel daran, daß die Einhaltung dieser Bekleidungsvorschriften für die Ast. Keine Frage reiner Äußerlichkeiten darstellt, sondern die Bekleidungsvorschriften des Korans in der von ihnen verstandenen Weise für sie einen verbindlichen Teil der Lehren und Regeln über Moral und Lebensführung in Übereinstimmung mit islamischen Grundsätzen bilden, nach denen sie ihr Verhalten im Alltag ausrichten. Eine Bewertung dieser Glaubenshaltung oder eine Überprüfung ihrer theologischen Richtigkeit, insbesondere die - vom VG vorgenommene - Interpretation der dafür einschlägigen Stellen des Korans, Sure 24, Vers 31 bzw. 32, ist dem Staat und dem staatlichen Gericht verwehrt […]. Für die verfassungsrechtliche Schutzfähigkeit der von den Ast. als sie verpflichtend dargestellten religiösen Gebote spielt es auch keine Rolle, ob die von ihnen aus dem Koran gewonnene Überzeugung, schon die für Sportausübung übliche leichte und körperliche Bekleidung sei als schamlos im Sinne der Bekleidungsvorschriften anzusehen und daher den Frauen verboten, im islamischen Raum allgemein oder nur von Strenggläubigen, Orthodoxen bzw. islamischen Fundamentalisten geteilt wird. Außer Betracht zu bleiben hat auch der Umstand, daß die islamische Kleiderordnung, die u. a. für Frauen den "Hedschab" vorschreibt, d. h. die züchtige Bedeckung von Kopf, Haaren und Schultern, nach westlichen Beurteilungsmaßstäben einseitig zu Lasten der Frauen geht, die den Männern in der Öffentlichkeit keine sinnlichen Reize bieten sollen. Denn der zahlenmäßigen Stärke und der gesellschaftlichen Auswirkung der Glaubenshaltung kommt hinsichtlich der Schutzfähigkeit einer religiösen Überzeugung keine Bedeutung zu. Selbst Außenseitern und Sektierern ist die ungestörte Entfaltung ihrer Persönlichkeit gem. ihren subjektiven Glaubensüberzeugungen gestattet, solange sie nicht in Widerspruch zu anderen Wertentscheidungen der Verfassung geraten und aus ihrem Verhalten deshalb fühlbare Beeinträchtigungen für das Gemeinwesen oder die Grundrechte anderer erwachsen […]. Nicht in den Schutzbereich der durch Art. 4 I GG garantierten Glaubens- und Religionsfreiheit fallen lediglich völlig willkürliche, nur angeblich religiös gebotene Verhaltensnormen, zu denen die Bekleidungsvorschriften des Korans auch in der ihnen von den Antragstellern beigemessenen am Wortlaut orientierten strengen Auslegung nicht zu zählen sind.

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Dem hiernach berechtigten Anspruch der Ast. und ihrer Töchter auf den Schutz ihrer religiösen Überzeugung ist gegenüber dem verfassungsrechtlich gesicherten staatlichen Bildungsauftrag aus Art. 7 I GG hier der Vorrang einzuräumen. Der Sportunterricht stellt zwar wegen seiner positiven Auswirkungen auf die Gesundheit, die sportlichen Fertigkeiten und die Entwicklung des sozialen Verhaltens der Schüler einen wichtigen Teil des staatlichen Bildungsauftrags dar, und es kann nicht verkannt werden, daß die Töchter der Ast. wegen der Nichtteilnahme am Turnunterricht möglicherweise innerhalb des jeweiligen Klassenverbandes in eine ihrer Entwicklung kaum zuträgliche Außenseiterrolle gedrängt werden könnten. Der staatliche Bildungsauftrag als solcher wird aber durch die begehrte Befreiung vom Sportunterricht im Einzelfall nicht grundsätzlich in Frage gestellt; der Sportunterricht insgesamt bleibt unberührt, die Funktionsfähigkeit der Schule als umfassende Bildungseinrichtung wird durch eine Befreiung vom Sportunterricht im Einzelfall nicht beeinträchtigt; und die Möglichkeit eines vollwertigen und vergleichbaren, am Leistungsprinzip orientierten Schulabschlusses wird durch die Befreiung nicht entscheidend berührt […]. Es kommt hinzu, daß nach Nr. 1.3 des Erlasses vom 16.7.1976 eine völlige Freistellung vom Sportunterricht aus gesundheitlichen Gründen möglich ist. Den von den Ast. für ihren Befreiungsantrag vorgetragenen Glaubens- und Gewissensgründen kann angesichts des besonderen Gewichts des Art. 4 I GG im Katalog der Grundrechte eine zumindest gleichrangige Bedeutung nicht angesprochen werden.

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 Den Ast. und ihren Töchtern ist nach alledem deren Teilnahme am Sportunterricht in der vorgeschriebenen bzw. sachlich gebotenen Kleidung unzumutbar. Es kommt mithin nicht entscheidungserheblich darauf an, ob den Töchtern der Ast. vor und nach dem Sportunterricht die Möglichkeit eröffnet ist, sich umzukleiden, ohne dabei den Blicken anderer ausgesetzt zu sein. Eine Gestaltung des Sportunterrichts, die sich mit der religiösen Überzeugung der Antragsteller und ihrer Töchter vereinbaren ließe, ist offensichtlich nicht möglich. Deshalb vermag allein eine Befreiung vom Sportunterricht den Erziehungs- und Glaubenskonflikt zu lösen. Diese ist den Töchtern der Ast. - vorbehaltlich anderer Erkenntnisse im Rahmen des Hauptsacheverfahrens – zumindest vorläufig zu gewähren.

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