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Stellungnahme zum Beschluss des BVerfG zum Kopftuch in staatlichen Kindertagesstätten vom 18. Oktober 2016

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat erneut über das Kopftuch im Arbeitsleben entschieden. Diesmal ging es um die Frage, ob ein muslimisches Kopftuch an staatlichen Kindertagesstätten von Erziehungspersonal getragen werden darf.
Mit dem Beschluss knüpft das BVerfG an seine letzte Kopftuch-Entscheidung vom Januar 2015 an, bei der es um den Fall der kopftuchtragenden Lehrerin an staatlichen Schulen ging und verweist gleich zu Beginn der Begründetheit darauf. Die Besonderheiten des Kindergartenbereichs, wie der Entwicklungsstand von Kindern und die damit einhergehende potenzielle leichtere Beeinflussbarkeit ändern nach Ansicht des Gerichts nichts daran, dass für Verbotsregelungen zur Wahrung der Neutralität die gleichen Einschränkungen wie für die Schule gelten. Daraus folgt, dass ein Kopftuchverbot nur aufgrund einer konkreten Gefahr in einer Vielzahl von Fällen zu rechtfertigen ist. Im Ergebnis ist die Entscheidung zu begrüßen, denn es beendet – jedenfalls in der Theorie – in einem weiteren Arbeitsbereich die Ausgrenzung und Diskriminierung von kopftuchtragenden muslimischen Frauen. Dennoch enthält die Entscheidung auch problematische Stellen, die die Reichweite der Religionsfreiheit nach Art. Art. 4 I, II des Grundgesetzes (GG) auf bedenkliche Weise beschränken.


I. Abstrakte Gefahr und freiwillige religiöse Vorschriften

Nach der Begründung des BVerfG reiche eine abstrakte Gefahr nicht aus, um die Religionsfreiheit nach Art. 4 I, II GG zu beschränken, wenn „die in Rede stehende äußere Bekundung auf ein als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot zurückzuführen ist." Da hier die Unzulässigkeit des Kriteriums der abstrakten Gefahr unmittelbar an das Vorliegen eines verpflichtend empfundenen religiösen Glaubensgebots knüpft, wäre – im Umkehrschluss – eine abstrakte Gefahr im Falle von freiwilligen religiösen Handlungen oder Bekundungen für ein Verbot ausreichend.

Eine solche Begründung ist aus mehreren Punkten verfassungsrechtlich problematisch. Generell ist zu sagen, dass das Kriterium abstrakter (und auch konkreter) Gefahren in der Verfassungsdogmatik zu Art. 4 I, II GG fehlplatziert und ein Phänomen der neueren Rechtsprechung des BVerfG zu Sachverhalten darstellt, in denen es um „fremde" Religionen geht. Bis in die 90er Jahre hinein wurden derartige Kriterien insbesondere vom BVerfG nicht herangezogen, um ein religiös motiviertes Verhalten verfassungsrechtlich zu beurteilen. Dies aus gutem Grund: Der für vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte geltende Grundsatz der praktischen Konkordanz war stets einschlägiges Werkzeug bei der Lösung von Grundrechtskollisionen. Eine Grundrechtskollision setzt ihrem Wortlaut bereits eine Kollision der entsprechenden Rechtsgüter, nicht bereits eine eventuelle Gefahr für eine solche voraus. Beide in Kollision geratenen Rechtsgüter müssen im Sinne einer praktischen Konkordanz so in Einklang gebracht werden, dass keines gänzlich zurücktreten muss. Zudem dürfen die zur Diskussion stehenden Rechtsgüter nicht von beliebiger Natur sein, sondern müssen, so im Falle vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechtrechte wie die Religionsfreiheit nach Art. 4 I, II GG, von Verfassungsrang sein. Die mit dem Kriterium der abstrakten, aber auch konkreten Gefahr einhergehende „Aufweichung" des Grundsatzes der praktischen Konkordanz führt zu einer Schieflage in der Beurteilung der kopftuchtragenden Lehrerin. Erstens weil die Religionsfreiheit danach nicht zwingend mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang kollidiert sein muss. Eine Gefahr für die Kollision reicht aus. Zweitens weil das BVerfG offen gelassen hat, von wem die Gefahr ausgehen muss. Man denke zum Beispiel an Schulen, in denen die Eltern-, Schüler- oder Kollegenschaft dem muslimischen Kopftuch kritisch gegenüber stehen. Ferner an Schulen, in denen es ohne Zutun der Lehrerin immer wieder zu Konflikten zwischen Schülern über religiöse Belange kommt. In solchen Fällen wäre möglicherweise eine Gefahrenlage gegeben, die ohne aktives Verhalten der Lehrerin bestünde, diese sich jedoch auf ihre Grundrechtsgewährung negativ, d.h. beschränkend auswirken könnte.

Anknüpfend an die Problematik, die insbesondere aus dem Kriterium der „abstrakten" Gefahr resultiert, ist es verfassungsdogmatisch auch problematisch eine abstrakte Gefahr im Falle freiwilligen religiösen Handelns bzw. Erscheinens für ein Verbot ausreichen zu lassen. Das BVerfG versteht Art. 4 I, II GG als ein einheitliches Grundrecht. Dazu zählt das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln und zu leben. Dies betreffe nicht nur imperative Glaubenssätze. Religiöse Zweifler sind ebenso geschützt wie besonders fromme Menschen, für die die Nichteinhaltung verpflichtender religiöser Vorschriften auch als schwerer Eingriff in die eigene Religionsfreiheit empfunden wird. Für im öffentlichen Dienst Beschäftigte darf diese vom BVerfG traditionell extensiv verstandene Grundrechtsberechtigung nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt werden. Im Falle einer freiwilligen religiösen Vorschrift eine abstrakte Gefahr als zulässig für ein Verbot anzusehen, widerspricht insofern nicht nur dem bisherigen bundesverfassungsgerichtlichen Verständnis eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts, sondern umgeht den Grundsatz der praktischen Konkordanz in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise. Unabhängig davon, ob es sich bei dem in Frage stehenden religiösen Handeln um freiwillige oder verpflichtende Glaubenssätze handelt, muss eine Abwägung der Rechtsgüter (von Verfassungsrang) erfolgen. Dass die Gewichtung von freiwilligem Handeln bei der Abwägung anders ausfällt als bei einer verpflichtenden Vorschrift liegt auf der Hand und muss ebenso Berücksichtigung finden. Eine Umgehung dieser Abwägung allein auf das Argument zu stützen, es gehe um freiwilliges Handeln, ist jedenfalls verfassungsrechtlich unzulässig.


II. "Üblichkeit" des muslimischen Kopftuches

Das BVerfG führt zum muslimischen Kopftuch aus, dass es um eine übliche religiöse Bekleidung ginge. Das Kriterium der „Üblichkeit" suggeriert im Umkehrschluss, dass ein religiöses Verhalten dann von den Eltern und Kindern nicht hingenommen werden müsste, wenn es nicht „üblich" oder „religiös verbreitet" wäre. Eine solche Schlussfolgerung lässt die Konzeption der Religionsfreiheit gemäß Art. 4 I, II GG jedoch nicht zu. Die typischerweise als Minderheitengrundrecht konzipierte Religionsfreiheit gemäß Art. 4 I, II GG schützt eben nicht nur religiös verbreitetes oder übliches religiöses Verhalten, sondern auch nicht verbreitete – oder besser: verbreitet befolgte – religiöse Verhaltensweisen, sei es religiös nicht breitflächig befolgte Gebote, Verbote oder Empfehlungen. Zwar bewirkt die Heranziehung dieses Kriteriums auf bisher nicht von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung umfasste religiöse Verhaltensweisen – wie hier das Tragen des Kopftuches – eine juridische Öffnung gegenüber islamischen Bekleidungsregeln. Andere religiöse, jedoch nicht etablierte oder weitverbreitete Formen und Verhaltensweisen werden aufgrund dieses Kriteriums im Rahmen der verfassungsrechtlichen Würdigung nicht hinreichend berücksichtigt und können unter Umständen von vornherein aus dem Schutzbereich der Religionsfreiheit fallen.


III. Das BverfG in der Rolle des Agendasetters

Trotz einiger weniger Paradoxien in der (neuen) Dogmatik zur Religionsfreiheit nach Art. 4 I, II GG sowie der verfassungsrechtlich als problematisch zu erachtenden Kriterien der abstrakten und konkreten Gefahren, kristallisiert sich aus der Rechtsprechung des BVerfG ein in Bezug auf religiös „Fremdes" grundrechtsfreundliches und dem Minderheitengrundrecht der Religionsfreiheit Rechnung tragendes Verständnis heraus, das an einen offenen, toleranten und diskriminierungsfreien Neutralitätsbegriff appelliert und den Gleichheitsgrundsatz immer mehr zum maßgeblichen Weichensteller erhebt. Das BVerfG hat einige wichtige und bisher einzigartige Weichen für den zukünftigen juridischen, aber auch gesetzgeberischen sowie politischen Umgang mit dem muslimischen Kopftuch gestellt. Bleibt abzuwarten wie sich dies in der Rechtsprechung der Instanzengerichte niederschlägt.

1 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016 – 1 BVR 354/11 – Rn. 55f.

2 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016 – 1 BVR 354/11 – Rn. 55.

3 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016 – 1 BVR 354/11 – Rn. 58 mit Verweis auf BVerfGE 108, 282, 297; 138, 296, 328f.

4 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016 – 1 BVR 354/11 – Rn. 58 mit Verweis auf BVerfGE 138, 296, 328; 108, 282, 297f.

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