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Stellungnahme zum Beschluss des BVerfG vom 27.Juni 2017 zu Rechtsreferendarinnen mit Kopftuch

Das Bundesverfassungsgericht hat erstmals über einen Fall vorläufig entschieden, der wohl auch die nächsten Jahre die Instanzengerichte beschäftigen wird. Es geht um das Kopftuch von Rechtsreferendarinnen und die Frage, inwieweit dieses die staatliche Neutralität gefährdet.


I. Verschärfte Bedingungen für die Justiz

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in den letzten knapp 15 Jahren schwer damit getan, den Umgang mit religiöser Fremdheit rechtlich zu regeln. Entschied der Zweite Senat noch im Jahre 2003, dass das Kopftuch – und wohlbemerkt auch alle andere religiösen Symbole - bereits aufgrund „abstrakter Gefahren“ durch ein parlamentarisches Gesetz verboten werden können, brauchte es nach Meinung der Richter des Ersten Senats seit dem Jahr 2015 nunmehr einer konkrete Gefahr, um das Kopftuch gesetzlich zu verbieten. Der Erste Senat wurde seinerseits konkreter denn je und verlangte eine in einer Vielzahl von Fällen belegbare und begründete Gefahr. Erst dann könnten Grundfreiheiten begrenzt, erst dann höchstpersönliche Entscheidungen missachtet werden. Die Karlsruher Richter gingen 2015 einen richtungsweisenden Weg und trugen der Realität einer pluralisierten und hochdifferenzierten Gesellschaft Rechnung.
Umso überraschender ist der Beschluss des Zweiten Senats vom 27. Juni 2017 nun zum Kopftuch der hessischen Rechtsreferendarin. Zwar ist diese Entscheidung nur eine vorläufige, aber das Gericht lässt eine bedauernswerte Tendenz erkennen: Für den Bereich der Justiz müsse eine „unbedingte Neutralität“ gelten, die Verfahrensbeteiligten müssten auf die Unabhängigkeit der Justiz vertrauen können“. Auch das Kriterium der „unausweichlichen Situation“ wird herangeführt, ein Kriterium also, dass das Bundesverfassungsgericht Mitte der siebziger Jahre im Falle des gemeinsamen christlichen Schulgebets sowie Anfang der neunziger Jahre für das Kruzifix in staatlichen Schulen annahm. Beides erklärte es im Ergebnis als zulässig, sofern sichergestellt wird, dass die dissertierende Schüler den Schulraum während des u.a. durch einen Lehrer eingeleiteten Schulgebets verlassen konnten oder - im Falle des Kruzifix-Urteils – den Schülern bzw. deren Eltern die Möglichkeit der Einräumung eines Widerspruchs gegeben wurde. Aktuell beruft sich das Bundesverfassungsgericht auf die „unausweichliche Situation“ für die Verfahrensbeteiligten, die sich dem „Einfluss eines bestimmten Glaubens“ im Gerichtssaal nicht entziehen könnten. 
Beim Schulgebet und dem Kruzifix gibt es jedoch einen fundamentalen Unterschied zum Kopftuch der Rechtsreferendarin. Während das staatlich initiierte Schulgebet und das von staatlicher Seite angebrachte Kruzifix ein Akt darstellt, der dem Staat unmittelbar zugerechnet werden kann, handelt es sich bei dem Kopftuch der Rechtsreferendarin oder gar einer Richterin um den Ausdruck ihrer höchstpersönlichen Entscheidung, einen Weg zu gehen, den sie und nicht der Staat für richtig halten muss. Hier stehen sich Individualfreiheit und religiöses Statement des Staates gegenüber. Das eine verbietet die Verfassung explizit - so ausschweifend man den offenen Neutralitätsbegriff verstanden haben will – das andere nicht. Der Bereich der Justiz macht aus der Rechtsreferendarin kein Neutrum, auch sie genießt Grundfreiheiten. Für den Bereich der Justiz darf nichts anderes gelten. Die Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis ist längst bundesverfassungsgerichtliche Vergangenheit – könnte man meinen.


II. Es kommt auf Qualität, nicht auf Quantität an - auch und vor allem in Grundrechtsfragen

Zwar sagt das Bundesverfassungsgericht, dass das gesetzliche Bekundungsverbot „in die Grundrechte der Beschwerdeführerin“ eingreife. Allerdings sei dies „in zeitlicher sowie örtlicher Hinsicht lediglich begrenzt. So erstreckt sich das Verbot etwa auf den Zeitraum einer mündlichen Verhandlung und das Platznehmen hinter der Richterbank. Hingegen bleiben die übrigen, weit überwiegenden Ausbildungsinhalte im Rahmen der Einzelausbildung oder der Arbeitsgemeinschaften unberührt.“ 
Das Bundesverfassungsgericht bedient sich hier bei der Abwägung eines Maßstabs, der verfassungsrechtlich problematisch ist. Wird ein Grundrechtseingriff dadurch gerechtfertigt, dass dieser nicht die ganze Ausbildungszeit hindurch andauert oder dass das Verbot einen nur kleineren Teil der Ausbildung betrifft? Das Bundesverfassungsgericht geht bei der Abwägung nicht den klassischen Weg der Rechtfertigungsprüfung von vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten, die darin bestünde, dass im Wege der praktischen Konkordanz hier tatsächlich eine Abwägung der widerstreitenden Interessen erfolgen müsste. Auch im Rahmen des Eilrechtsschutzes müssen bei der Folgenabwägung beide Interessen gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Herangehensweise des Bundesverfassungsgerichts zeigt einen Weg auf, der gänzlich gegen die Idee der Grundrechte geht: Ein wenig Grundrechtseingriff ist möglich, der diskriminierungsfreie Teil der Ausbildung rechtfertigt den diskriminierenden Teil der Ausbildung. Das Bundesverfassungsgericht verkennt dabei, dass es bei der Grundrechtsgewährung und -sicherung eben nicht um Quantität geht. Vielmehr stellt sich der Fall der Rechtsreferendarin vorliegend dergestalt dar, dass ihr aufgrund des Merkmals der Religion ein Teil ihrer Ausbildung verwehrt wird. Und diese Diskriminierung ist auch nicht mit der Ausführung des Bundesverfassungsgerichts „dass Rechtsreferendare kein[en] Anspruch auf Übernahme und Durchführung dieser Tätigkeiten haben“ gut zu machen.  Das ist zu kurz gegriffen, denn darum geht es nicht. Vielmehr wird hier der von der muslimischen Rechtsreferendarin geltend gemachte Anspruch auf diskriminierungsfreieAusbildung verhandelt. Das übersieht das BVerfG, auch wenn es - wie es das im Beschluss tut – den (noch) hypothetischen Fall einer kopftuchtragenden Richtern mit verhandeln will. Ohne auf diesen Fall explizit eingehen zu wollen, nur so viel: Ein Kopftuchverbot stellt den äußerst untauglichen Versuch dar, die innere Einstellung einer Richterin zu prüfen. Da erscheint selbst die vom Bundesverfassungsgericht verpönte und seit langem unzulässige Gewissensprüfung als das kleinere Übel, entschiede man sich für mehr Rigidität im Öffentlichen Dienst.


III. Religionsfreiheit als Gefahrenabwehrrecht?

Die strikte, unbedingte Neutralität, Begriffe wie der „Anschein einer Gefahr“ oder einer „abstrakten Gefahr“ lassen die Verschiebung der Religionsfreiheit zu einem Gefahrenabwehrrecht deutlich werden. Zwar sagt das Bundesverfassungsgericht, dass die Beschwerdeführerin sich „auch als Angestellte im öffentlichen Dienst auf ihr Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes berufen [kann]; ihre Grundrechtsberechtigung wird durch die Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt“. Aber ist das wirklich so, wenn das Bundesverfassungsgericht im Anschluss von „unbedingte[r] Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten“ spricht und dabei auf eine seiner Entscheidung verweist, die einen gänzlich anderen Fall betraf? In jenem Fall führte das Bundesverfassungsgericht damals zur richterlichen Neutralität aus, dass nach „nach diesem Grundsatz auch gewährleistet sein [muss], daß der Rechtsuchende nicht vor einem Richter steht, der - etwa wegen naher Verwandtschaft, Freundschaft oder auch Verfeindung mit einer Partei - die gebotene Neutralität und Distanz vermissen läßt.“ 
Nicht nur verschärft das Bundesverfassungsgericht das Kriterium der „richterlichen Neutralität“ von einfacher zu „unbedingter“ Neutralität. Es wendet seine eigenen Grundsätze auf einen Fall an, der gar nicht in den vorgesehenen Anwendungsbereich passt. Damals nahm das Bundesverfassungsgericht Voreingenommenheit eines Richters im Falle schwerwiegender, objektiv nachweisbarer Faktoren wie „etwa wegen naher Verwandtschaft, Freundschaft oder auch Verfeindung mit einer Partei“ an, um eine richterliche Befangenheit anzunehmen. Im Falle der kopftuchtragenden Rechtsreferendarin geht es jedoch gar nicht um objektive Kriterien, die die „Neutralität des Staates“ tatsächlich in Frage stellen, sondern um ein Bild, dass überhaupt keine Schlüsse auf die Fähigkeit zu vor- oder unvoreingenommener Behandlung zulässt. In dem aktuellen Fall geht es ohnehin nicht um eine Richterin, sondern um eine weisungsgebundene, sich in Ausbildung befindende Rechtsreferendarin, der nicht explizit, sehr wohl aber implizit unterstellt wird, sie sei voreingenommen gegenüber den Verfahrensbeteiligten.
Diese sehr notwendigen Differenzierungen unterlässt das Bundesverfassungsgericht und verschärft eigens geschaffene Kriterien, indem es anstatt von einfacher „Neutralität“ nun von „unbedingter“ Neutralität spricht. Verschärfungen verfassungsrechtlicher Kriterien wurden für den Bereich der Religionsfreiheit im Zuge zunehmender religiöser Pluralität immer wieder vom Gericht unternommen. Das heißt nicht, dass derartige Kriterien illegitim ist. Vielmehr dienen sie der Judikatur als Stütze, wenn es darum geht, religiös neue Phänomene im Rahmen des Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetztes rechtlich einzuordnen. So entstanden Kriterien wie das der Plausibilität religiösen Verhaltens oder des „tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbildes“ einer Religion und Religionsgemeinschaft im Rahmen der Prüfung, ob eine Religion vorliegt oder nicht. Derartige Kriterien sind legitim. Sie verhindern, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetztes zu einem uferlosen Grundrecht verkommt oder durch Menschen missbraucht wird, die sich aus anderen Gründen auf Art. 4 I, II des Grundgesetztes berufen. Allerdings haben solche Kriterien auch ihre Grenzen. Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetztes weist aufgrund seines höchstpersönlichen Charakters eine Nähe zu Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetztes auf - der Unverletzlichkeit der Würde des Menschen. Diesem Umstand Rechnung tragend, muss bei der Heranziehung solcher unterstützender Kriterien stets das Selbstverständnis des Einzelnen bei der Beurteilung dessen, was von der Religionsfreiheit geschützt werden soll, primäre Bedeutung eingeräumt werden. Grundrechte sind zuvörderst Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. Dazu bedarf es, dass man die persönliche Entscheidung ernstnimmt und dass sie gehört wird. Das tut das Bundesverfassungsgericht stets bei der Frage des Schutzbereichs. Jedoch weicht es von diesem Grundsatz meist im Rahmen der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen ab. Wenn anstelle der persönlichen Beweggründe, vermeintliche Gefahren für die staatliche Neutralität ohne jegliche empirische oder rechtliche Grundlagen angeführt werden, schneidet man der Grundrechtsträgerin jegliche Chancen auf eine faire Abwägung im Rahmen der praktischen Konkordanz ab. Vielmehr kommt es gar nicht zur Herstellung praktischer Konkordanz, wenn von vornherein die vermeintlich objektive Sicht auf das Kopftuch geworfen wird, ohne sich mit den Beweggründen der Trägerin, sowie der Wirkung eines Kopftuches ernsthaft auseinanderzusetzen. Die Begriffe des „konkreten“ und nun im Bereich der Justiz ausreichenden „abstrakten Gefahr“ machen es unmöglich, überhaupt in praktische Konkordanz zu treten. Der Ausgleich besteht im Ausschluss. 
Bedauerlich ist, dass das Bundesverfassungsgericht in Kopftuch-Fragen in der Justiz den gleichen verfassungsrechtlich problematischen Weg zu gehen scheint, wie in der ersten Kopftuch-Entscheidung 2003, bei der es die „abstrakte Gefahr“ genügen ließ, um Eingriffe in die Religionsfreiheit einer kopftuchtragenden Lehrerin zu rechtfertigen. Damals gab es keine Abwägung und heute auch nicht. Die Begründung ist nahezu identisch. Der Zweite Senat erachtete gerade den schulischen Bereich als hoch sensibel, die Einwirkmöglichkeiten auf Kinder möglich, eine „strikte“ Neutralität unter Umständen geboten. Heute ist es der Justizbereich, die Unabhängigkeit der Justiz und eben wieder die staatliche Neutralität, die es rechtfertigt, bereits den „Anschein der Gefahr“ zu vermeiden. Beiden Entscheidungen ist gemein, dass das Bundesverfassungsgericht bei dem „objektiven Empfängerhorizont“ offensichtlich nicht von einem objektiven, vernünftigen Dritten ausgeht, sondern von einem scheuen, ängstlichen Bürger in einer vermeintlich homogenen Mehrheitsgesellschaft, dessen Befinden durch das Auftauchen neuer (alter) religiöser Fremdheit ins Wanken gerät.
Das Bundesverfassungsgericht scheint sich von diesem Dritten in seinen Entscheidungen leiten zu lassen: Stellte in den 70er bis 90er Jahren in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit christlicher Bezüge ein „missionierendes“ Verhalten eines Lehrers die Grenze seiner grundrechtlich garantierten Religions- und Glaubensfreiheit dar, so war 2003 im Falle einer muslimischen, kopftuchtragenden Lehrerin nunmehr ein „beeinflussendes“ Verhalten als beschränkenden Kriterium ausreichend. Die Herabstufung des Maßstabs der „Missionierung“ auf den der „bloßen Beeinflussung“ ist nur eines von zahlreichen Beispielen, wie auch das Bundesverfassungsgericht nicht in der Lage ist, der gegenwärtigen „Atmosphäre der Angst vor dem Fremden“ Einhalt zu gebieten, die sich weder aus Empirie und Normativität speist, sondern von einem Unbehagen vor dem Fremden geleitet wird. Es scheint, als ob bei der Frage des Kopftuchs existenzielle Fragen des Staates mit abgehandelt werden.
Es ist an der Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht die Auseinandersetzung mit jenen Fragen um das Kopftuch versachlicht und entemotionalisiert. Das Bundesverfassungsgericht könnte hier seinem integrativen Ruf als Agendasetter weit mehr genügen, als es das jetzt tut. Dass es die Fähigkeiten dazu hat, bewies es 2015. 

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