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Nutzung von Tongeräten für den muslimischen Gebetsruf

OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18

Sachverhalt
Die Kläger sind Eigentümer eines mit einem selbstgenutzten Wohngebäude bebauten Grundstücks, das in 890 m Entfernung einer türkisch-islamischen Gemeinde liegt, die auch als Moschee genutzt wird.1 Die Beklagte erteilte dieser Moschee auf dessen Antrag eine immissionsschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung für die Benutzung eines Lautsprechers zur Durchführung des muslimischen Gebetsrufs anlässlich des Freitagsgebets.2 Auf Klage des Klägers hat das VG Gelsenkirchen die Genehmigung aufgehoben.3 Mit der Berufung beantragt die Beklagte das Urteil des VG zu ändern und die Klage abzuweisen.4 Die Kläger beantragen die Berufung zurückzuweisen und festzustellen, dass der Genehmigungsbescheid rechtswidrig war.5 

Gründe
Die Berufung hatte Erfolg.6 Es fehle an einer subjektiven Rechtsverletzung der Kläger.7 Diese seien selbst nicht einer erheblichen Belastung i.S.d. § 10 Abs. 1 LImSchG NRW ausgesetzt gewesen.8 Für die Beurteilung, ob eine Lärmeinwirkung eine erhebliche Belästigung darstelle, sei nicht die individuelle Einstellung eines besonders empfindlichen Nachbarn, sondern ein objektiver Maßstab, also das Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen, zugrunde zu legen.9

Zunächst sei festzustellen, dass die Vorschriften der TA Lärm grundsätzlich geeignet seien, um zu beurteilen, ob die Geräuschbelastung durch den lautsprecherverstärkten Gebetsruf die Schwelle der erheblichen Belästigung i.S.d § 10 Abs. 1 LImSchG NRW i.V.m. § 3 Abs. 1 BImSchG überschreite.10 Der nach Nr. 6.1 TA Lärm maßgebliche Immissionsrichtwert von 55 dB(A) sei durch den lautsprecherverstärkten Gebetsruf deutlich unterschritten worden, da eine schalltechnische Stellungnahme ergeben habe, dass der Gebetsruf am Wohnhaus der Kläger lediglich mit 28 dB(A) gehört werden könne.11

Des Weiteren sei nach Nr. 3.2.2 S. 1 TA Lärm eine Einzelfallprüfung vorzunehmen.12 Es kämen als Einzelfallumstände die spezifische Geräuschakustik des Gebetsrufs, namentlich der Gesang in arabischer Sprache mit spezieller Melodie, und dessen religiöser Inhalt in Betracht, denn diese könnten nach Nr. 3.2.2. S.1 lit. d) TA Lärm besondere Gesichtspunkte der Herkömmlichkeit und sozialen Adäquanz darstellen.13 Es komme bei der Bewertung der Herkömmlichkeit, anders als die Vorinstanz meine, nicht auf eine allgemeine Akzeptanz an, die durch eine Einbeziehung der Bewohner, etwa in Form einer Bürgerbefragung, ermittelt werden müsse.14 Vielmehr sei die Bewertung Gegenstand der tatrichterlichen Würdigung.15 Bei der gebotenen wertenden Betrachtung sei die Bedeutung der Religionsfreiheit gemäß Art. 4 GG Abs. 1 und 2 GG für den Gebetsruf angemessen Rechnung zu tragen.16 Der freitägliche Gebetsruf und die genehmigte Benutzung eines Lautsprechers zu dessen Durchführung sei von der Religionsfreiheit geschützt und diese Wertung des Grundgesetzes wirke in das einfache Recht der TA Lärm hinein.17 Der grundrechtliche Schutz des genehmigten Gebetsrufs als positive Religionsausübung werde auch nicht durch die negative Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG der Kläger eingeschränkt, denn diese vermittle kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, verschont zu bleiben.18 Davon zu unterscheiden sei zwar eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, ausgesetzt sei.19 Doch es sei für jeden Empfänger offenkundig, dass der Gebetsruf nicht staatlich veranlasst sei, sondern Ausdruck der individuellen und religiös motivierten Entscheidung der muslimischen Gemeinde und seiner Mitglieder sei.20 Zudem seien die Kläger dem Gebetsruf nicht unausweichlich wie in einer Zwangslage ausgesetzt, denn sie wohnten in 890 m Entfernung zur Schallquelle, so dass der Gebetsruf auf ihrem Grundstück nur sehr leise außerhalb des Hauses wahrnehmbar sei und dies auch nur beschränkt auf maximal 15 Minuten pro Woche.21 Folglich lägen hier keine zu berücksichtigenden Einzelfallumstände vor.22

Einordnung in die Rechtsprechung
Im weiteren Verfahrensgang haben die Kläger erfolglos eine Beschwerde beim BVerwG gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt.23

Das Urteil steht im Einklang mit der Rechtsprechung zum liturgischen Glockenläuten, wonach die negative Religionsfreiheit der Kläger hinter dem Recht der Kirche auf positive Religionsausübung mit ähnlicher Begründung zurücktreten muss.24 In einem anderen Urteil erging die Interessenabwägung mit ähnlichen Erwägungen allerdings zugunsten eines Nachbarn, da das nächtliche Glockenläuten über der von der TA Lärm festgesetzten Schwelle lag und lediglich traditionelle Bedeutung hatte.25


1 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 1-3.

2 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 5-8.

3 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 25; VG Gelsenkirchen v. 01.02.2018 – 8 K 2964/15.

4 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 28 f.

5 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 30 f.

6 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 66.

7 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 73.

8 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 77.

9 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 85.

10 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 88, 90.

11 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 96-98.

12 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 112 f.

13 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 111, 118.

14 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 121.

15 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 121.

16 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 118.

17 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 120, 123-137.

18 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 139.

19 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 140.

20 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 145.

21 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 147.

22 OVG NRW v. 23.09.2020 – 8 A 1161/18, Rn. 148.

23 BVerwG v. 17.08.2021 - 7 B 16/20.

24 BVerwG v. 19.02.2013 - 7 B 38/12; BVerfG  v. 07.10.1983 - 7 C 44/81.

25 BVerwG v. 30.04.1992 - 7 C 25/91.

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