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Rechtsurteile

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Kindergeldanspruch bei Ausbildung in Syrien zum "Hodscha"

Deutschstämmige Kinder behalten bei einem vorübergehenden Auslandsaufenthalt zu Ausbildungszwecken grundsätzlich ihren Wohnsitz bei den Eltern. Vor allem wird der Rückkehrwille des Kindes nach Deutschland dadurch deutlich, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft annahm und seine vorherige Staatsbürgerschaft dadurch verlor. (Leitsatz der Redaktion)


Zum Sachverhalt:

 

Die Beteiligten streiten um den Kindergeldanspruch der Klägerin für ihren Sohn C, der sich von Februar 1997 bis Juni 1999 zur Ausbildung im Ausland aufhielt.

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Die Klägerin und ihr Ehemann sind gebürtige Türken, die im November 1993 die deutsche Staatsangehörigkeit erwarben. Ihr am 24. Januar 1979 in Deutschland geborener Sohn besitzt ebenfalls seit dem 25. November 1993 die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Klägerin, ihr Ehemann sowie sämtliche Kinder wurden mit dem Zeitpunkt der Einbürgerung aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen.

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C hielt sich von seiner Geburt an bis zur Ablegung des Hauptschulabschlusses 1995 in Deutschland auf. [...]

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Seit August 1995 besuchte C das islamische Institut für Aufruf und religiöse Führung des Wohltätigkeitsvereins Al-Ansar in Damaskus. Nach dreijährigem Besuch des Instituts kann der Schüler das religiöse Reifezeugnis erlangen, dass ihn zu einem vierjährigen Hochschulstudium berechtigt, wenn er ein Prädikat gut oder darüber erhält. Auch in der Folgezeit nahm C am Unterricht des Studieninstituts in Damaskus (Syrien) teil. Während der Semesterferien kehrte C jeweils nach Deutschland zu seinen Eltern zurück. Die Ausbildung sollte voraussichtlich im Juni 2004 beendet sein. C brach jedoch die Ausbildung zum Hodscha im Juni 1999 ab und kehrte nach Deutschland zurück. Am 25.06.1999 heiratete C und zog aus der elterlichen Wohnung aus. In der Folgezeit nahm C Gelegenheitsarbeiten an. [...]

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Mit Bescheid vom 28. Mai 1998 entzog der Beklagte der Klägerin den Anspruch auf Kindergeld für C ab Februar 1997, weil ihr Sohn seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland habe. Den Einspruch der Klägerin wies der Beklagte durch Entscheidung vom 30. Oktober 1998 zurück.

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Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Weitergewährung des Kindergeldes ab Februar 1997. Sie ist der Ansicht, ihr stehe ein Kindergeldanspruch für ihren Sohn C zu. C sei in Deutschland aufgewachsen und sei wie seine Eltern deutscher Staatsbürger. Er sei mit dem deutschen Kulturkreis vertraut und in ihm verwurzelt. Ziel der Ausbildung sei es, sogenannter Hodscha (islamischer Priester) zu werden. Nach Abschluss der Ausbildung wolle er in Deutschland für den islamischen Glaubenskreis als Hodscha arbeiten. Die religiöse Ausrichtung allein lasse den Schluss auf die Verlagerung des Lebensmittelpunktes nach Damaskus nicht zu. C sei in Deutschland aufgewachsen und habe hier seine schulische Ausbildung absolviert. In Damaskus sei er nicht bei Verwandten untergebracht, sondern habe eine Unterkunft von Fremden gemietet. Seine Bindungen zur Familie in Deutschland bestünden weiterhin. Er kehre jeweils in den Semesterferien nach Deutschland zurück. Zudem bezwecke er, nach Abschluss der Ausbildung eine Tätigkeit im Inland aufzunehmen. [...]

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Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Mai 1998 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 30. Oktober 1998 zu verurteilen, den Klägern ab Februar 1997 bis einschließlich Mai 1999 weiterhin Kindergeld für das Kind C zu bewilligen.

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Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält an seiner in der Einspruchsentscheidung vertretenen Rechtsauffassung fest. Danach stehe der Klägerin für ihren Sohn Kindergeld nicht mehr zu, weil dieser den Mittelpunkt der Lebensbeziehungen im Ausland habe. Dies beruhe darauf, dass der Sohn sich seit mehr als drei Jahren zur Ausbildung im Ausland befinde. Nach Inhalt und Ziel der Ausbildung bekenne er sich eindeutig zu seinem ursprünglichen islamischen Kulturkreis. Dies lasse die Schlussfolgerung zu, dass nicht nur eine vorübergehende Unterbrechung des Inlandaufenthaltes vorliege.

 

Gründe:

I.

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Die Klage ist begründet.

Der Klägerin steht nach § 62 Abs. 1 EStG für ihren Sohn C ab Februar 1997 bis einschließlich Mai 1999 fortlaufend Kindergeld zu. Gemäß § 62 Abs. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld für berücksichtigungsfähige Kinder i. S. d. § 63 EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Voraussetzung für die Berücksichtigung von Kindern ist es unter anderem, dass diese einen Wohnsitz im Inland oder einem Staat i.S.d. § 73 Abs. 1 Satz 3 EStG haben.

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Zwar zählt der Ausbildungsstaat des C, Syrien, nicht zu den Staaten i.S.d. § 73 EStG. Der Sohn C der Klägerin ist als Kind für die Gewährung von Kindergeld jedoch zu berücksichtigen, da er für den streitigen Zeitraum seinen Wohnsitz bei seinen Eltern im Inland hatte.

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1. Der Wohnsitzbegriff i.S.d. §§ 62, 63 EStG ist mangels eigenständiger Definition unter Rückgriff auf § 8 AO zu ermitteln. Danach setzt ein Wohnsitz neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumlichkeiten das Innehaben der Wohnung in der Weise voraus, dass der Steuerpflichtige bzw. sein Kind tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, wenn auch in größeren Zeitabständen aufsucht. [...] Außer dem Innehaben einer Wohnung setzt der Wohnsitzbegriff zudem Umstände voraus, die darauf schließen lassen, dass die Wohnung durch den Inhaber beibehalten und als solche benutzt werden soll. Die Begründung, Beibehaltung und Aufgabe des Wohnsitzes ist anhand des tatsächlich verwirklichten Lebenssachverhaltes zu beurteilen. [...]

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Für ausländische Kinder hat der BFH ein Innehaben einer inländischen Wohnung verneint, wenn das ausländische Kind zum Schulbesuch in das Heimatland seiner Eltern zurückkehrt. Dies soll auch dann gelten, wenn das Kind während der Ferien die Eltern im Inland besucht. [...]

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Dem gegenüber wird für deutschstämmige Kinder die Auffassung vertreten, dass diese in der Regel ihren Wohnsitz bei den Eltern behalten, auch wenn sie sich vorübergehend zu Ausbildungszwecken auswärts aufhalten [...]. Dieser Auffassung liegt die Annahme zugrunde, dass der auswärtige Aufenthalt durch den Zweck, die Schulausbildung bzw. das Studium abzuschließen, zeitlich begrenzt ist und deshalb nicht den Schluss zulässt, dass durch den auswärtigen Aufenthalt die Verbindung zu den Eltern unterbrochen sei. Dies gilt auch für volljährige Kinder [...].

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Ferner wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass ausländische Schüler und Studenten, deren Eltern im Bundesgebiet wohnen, wie deutsche Schüler und Studenten in der Regel einen Wohnsitz bei den Eltern behalten, wenn sie zur Schule oder zum Studium in einem ausländischen Staat gehen, der nicht ihr Heimatstaat ist [...].

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2. Nach den tatsächlichen Umständen des Falles liegen in den Streitjahren die Voraussetzungen für einen Wohnsitz des Sohnes der Klägerin im Inland vor.

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a) Bei der Wohnung der Klägerin handelt es sich um Räumlichkeiten, die zur Aufnahme des Sohnes geeignet waren. [...]

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b) Der Sohn C hatte die Familienwohnung unter Umständen inne, die darauf schließen lassen, dass er diese beibehalten und benutzen wollte.

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C hat die Bindung zu seiner Familie im Inland nie aufgegeben. C hat seine gesamte schulische Ausbildung in Deutschland absolviert. Erst zur weiteren beruflichen Ausbildung ist C im Ausland nach Syrien gegangen, weil eine Ausbildung zum islamischen Hodscha in Deutschland nicht möglich ist. Die Wahl des Studienortes in Syrien war dabei nicht durch die Nähe zum Heimatland Türkei motiviert, sondern durch den zunächst gefassten Berufswunsch. Zu Syrien hatte weder C noch seine Eltern verwandtschaftliche Beziehungen. Dabei spricht auch - entgegen der Auffassung des Beklagten - nicht für eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes nach Damaskus, dass die religiöse Ausrichtung der Mehrheit der Bevölkerung in Syrien und in dem Heimatland des C identisch ist. Allein die Glaubensverhaftung im Islam lässt keine zwingenden Schlüsse darauf zu, dass C durch seine Ausbildung seinen weiteren Lebensweg in seinem Heimatland fortsetzen wollte.

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c) Der Wille zur Rückkehr nach Deutschland wird letztlich dadurch belegt, dass der Sohn seit 1993 aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen wurde und die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat. Hierdurch kommt im besonderen Maße eine räumliche und kulturelle Neuausrichtung des Sohnes zum Ausdruck. [...]

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Die räumliche Trennung von den Eltern, die durch die Unterbringung bei Fremden in Damaskus während der Ausbildung eintrat, bedingt allein keine Auflösung der familiären Bindung und die Aufgabe des Familienwohnsitzes. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass C stets während der Ferien zu seinen Eltern nach Deutschland zurückgekehrt ist. Während dieser Zeit hielt er sich jeweils in der elterlichen Wohnung auf. Zudem kehrte er unmittelbar nach Abbruch der Ausbildung zunächst in die elterliche Wohnung zurück. Nach seiner Heirat in Deutschland verließ er zwar die elterliche Wohnung, begründete jedoch einen eigenen Familienwohnsitz in Deutschland. Dabei dokumentiert die spätere Aufnahme von Gelegenheitsarbeiten zudem den latent vorhanden gewesenen Willen, sein künftiges Leben nach Beendigung der Ausbildung in Deutschland fortzusetzen.

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d) Allein aus der langen Dauer des Auslandsaufenthaltes kann entgegen der Auffassung des Beklagten ebenso wenig wie bei gebürtigen deutschen Kindern auf eine Aufgabe des Wohnsitzes geschlossen werden. Denn nicht die Dauer des Aufenthaltes im Ausland ist für das Beibehalten eines Wohnsitzes entscheidend, sondern die anhand objektiver Beweisanzeichen feststellbarer Absicht, ob die Wohnung im Inland beizubehalten und auch künftig nutzen zu wollen. [...]

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