
Entschädigungsanspruch einer aufgrund des islamischen Kopftuchs nicht eingestellten Lehrerin
Einer Lehrerin, deren Bewerbung aufgrund der Nichtbereitschaft das islamische Kopftuch während des Unterrichtens abzulegen vom Land abgelehnt wird, steht kein Entschädigungsanspruch gem. § 15 AGG zu. Die Lehrerin ist durch die Ablehnung der Bewerbung zwar aufgrund ihrer Religion unmittelbar benachteiligt i.S.d. § 3 Abs. 1 AGG, diese Ablehnung ist aber, nach § 8 AGG in Verbindung mit dem Verbot bei der Ausübung des Lehrerinnen-Berufs religiöse Symbole oder Bekleidung im öffentlichen Dienst zu tragen gem. §2 Berliner Neutralitätsgesetz, zulässig. (Leitsatz der Redaktion)
Urteil: I. Die Klage wird abgewiesen. II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin. III. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 13.020,00 EUR festgesetzt.
Zum Sachverhalt: |
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Die Parteien streiten über einen Entschädigungsanspruch der Klägerin, die sich bei dem beklagten Land um eine Stelle für eine Lehrkraft beworben hat. |
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Die Klägerin bestand im Jahr 2008 die Zweite Staatsprüfung und erwarb damit die Befähigung für das Lehramt für die Bildungsgänge der Primarstufe und der Sekundarstufe I an allgemeinbildenden Schulen in den Fächern Politische Bildung, Deutsch und Sachunterricht. […] |
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Die Klägerin ist nach eigenem Bekunden gläubige Muslima und trägt ein islamisches Kopftuch. |
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Sie ist seit dem 01.09.2008 als Lehrerin für islamische Religion für den „I. F. in Berlin e. V.“ tätig. Den Religionsunterricht erteilt die Klägerin an einer Schule des beklagten Landes, welches gemäß § 13 Abs.1 Satz 1 SchulG Berlin den Religionsgemeinschaften die Durchführung des Religionsunterricht überlässt. Seit Januar 2014 befindet die Klägerin sich in dem Arbeitsverhältnis mit dem „I. F. in Berlin e.V.“ in Elternzeit. |
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Das beklagte Land hat einen großen Bedarf an Lehrkräften in allen Schularten und für fast alle Unterrichtsfächer. Die Schulverwaltung des beklagten Landes führt zur Rekrutierung von Lehrkräften u.a. zentrale Auswahlverfahren (im Sprachgebrauch der Schulverwaltung „Castings“) durch, wenn viele Schulen einen identischen oder ähnlichen Bedarf haben. Die Einladungen zu den Auswahlverfahren erfolgen dann zentral per E-Mail an die Bewerberinnen und Bewerber, im Nachgang erfolgt eine E-Mail zum Ergebnis des Auswahlverfahrens. |
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Im Frühjahr 2015 bewarb die Klägerin sich für eine Lehramtsposition beim beklagten Land. Mit einer eMail-Nachricht vom 23.04.2015 […] wurde die Klägerin zu einem Bewerbungsgespräch am 29.04.2015 eingeladen. In dieser eMail-Nachricht wird u.a. Folgendes ausgeführt: |
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„Ein Großteil des Einstellungsbedarfs der allgemein bildenden Schulen besteht an Grundschulen (in Berlin bis Klassenstufe 6). Daher ist es möglich, dass auch Bewerber/innen mit einer Lehrbefähigung für den Bereich der weiterführenden Schulen ein Einstellungsangebot für eine Grundschule erhalten (die Vergütung in Berlin bleibt in diesem Fall identisch).“ |
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In dem Bewerbungsgespräch am 29.04.2015 wurde die Klägerin gefragt, ob sie das Kopftuch auch im Unterricht tragen wolle. Die Klägerin bejahte die Frage. Eine Vertreterin der Berliner Schulverwaltung wies sodann die Klägerin darauf hin, dass dies nach § 2 des Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin (im Folgenden NeutrG genannt) nicht zulässig sei. |
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Mit einer eMail-Nachricht vom 06.05.2015 […] teilte das beklagte Land der Klägerin mit, dass ihr im Rahmen des Auswahlverfahrens für unbefristete Einstellungen des Schuljahres 2015/2016 kein Angebot unterbreitet werden könne. |
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Mit Anwaltsschreiben vom 26. 06.2015 […], welches vorab an das beklagte Land gefaxt worden war, ließ die Klägerin einen Entschädigungsanspruch nach § 15 AGG geltend machen. Sie wies darauf hin, dass sie praktizierende Muslima sei und aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch trage. Im Bewerbungsgespräch vom 29.04.2015 sei ihr mitgeteilt worden, dass ihr deshalb keine Stelle an einer Schule vermittelt werden könne. Diesen Anspruch wies das beklagte Land mit Schreiben vom 01.07.2015 […] zurück. |
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Den Entschädigungsanspruch verfolgt die Klägerin mit ihrer am 28.09. 2015 beim Arbeitsgericht Berlin eingegangenen und dem beklagten Land am 06.10.2015 zugestellten Klage weiter. |
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Sie trägt zur Begründung vor, dass sie gläubige Muslimin sei und aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch trage. |
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Im Bewerbungsgespräch am 29.04.2015 habe sie sich und ihren Lebenslauf für die Dauer von ungefähr fünf Minuten vorgestellt. Einer der anwesenden Schulleiter habe sie gefragt, wie sie unterrichten wolle. Das Kopftuch sei gesetzlich verboten. Die Klägerin habe angegeben, dass sie nicht bereit sei, dass Kopftuch während der Arbeitszeit abzulegen. Danach habe eine Vertreterin des beklagten Landes erklärt, dass die Einstellung einer Lehrerin, die auch während des Unterrichts das islamische Kopftuch tragen wolle, wegen des Berliner Neutralitätsgesetzes nicht möglich sei. Die Klägerin habe sodann auf die Entscheidung des BVerfG vom 27.01.2015 hingewiesen. Die Vertreterin des beklagten Landes sei bei ihrer Auffassung geblieben, dass eine Einstellung nach dem Landesrecht nicht möglich sei. |
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Die Klägerin habe in der Folgezeit noch Bewerbungsgespräche an zwei Grundschulen geführt und sei abgelehnt worden. Sie habe ein weiteres Stellenangebot einer Schule erhalten. Nach Erwähnung des Kopftuchs sei mitgeteilt worden, dass eine Einstellung nicht in Frage käme. […] |
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Die Ablehnung ihrer Bewerbungen aufgrund ihrer Religion habe die Klägerin zutiefst verletzt. Im Gespräch am 29.04.2015 habe die Klägerin zum Ausdruck gebracht, dass das Tragen des Kopftuchs Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung sei. |
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Zur Rechtfertigung der Ablehnung der Bewerbung könne das beklagte Land sich nicht auf § 2 NeutrG berufen. Nach den Vorgaben des BVerfG gemäß dem Beschluss vom 27.01.2015 sei ein pauschales Verbot religiöser Bekleidung nicht verfassungsgemäß. |
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Die Entschädigung sei nicht auf drei Monatseinkommen zu begrenzen, da die Klägerin für den Lehrerberuf geeignet sei und auch über eine langjährige Berufserfahrung verfüge. |
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Bei einer Vergütung nach der Entgeltgruppe 11 Stufe 5 TV-L Berlin ergebe sich ein Bruttomonatsgehalt in Höhe von 4.340,00 €. […] |
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Die Klägerin beantragt, das beklagte Land zu verurteilen, an die Klägerin eine angemessene Entschädigung, deren genaue Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, wegen einer Benachteiligung aufgrund der Religion zu zahlen. |
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Das beklagte Land beantragt, die Klage abzuweisen. Es trägt vor, dass die Klägerin im Einstellungsgespräch am 29.04.2015 gefragt worden sei, ob sie beabsichtige, das Kopftuch auch im Unterricht zu tragen. Die Klägerin habe diese Frage bejaht. Die Vertreterin der Schulverwaltung habe auf das NeutrG hingewiesen und erklärt, dass es sein könne, dass die Klägerin kein Beschäftigungsangebot bekäme. Es sei aber der Klägerin nicht gesagt worden, dass für sie eine Einstellung als Lehrerin generell nicht möglich sei. Die Klägerin sei schließlich auch im Rahmen der Nachsteuerung zu einem weiteren Vorstellungsgespräch am 27.05.2016 eingeladen worden, zu dem sie dann nicht erschienen sei. Eine Diskriminierung sei deshalb nicht anzunehmen. |
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Die Nichtbeschäftigung der Klägerin an einer Berliner Grundschule beruhe im Übrigen auf der eindeutigen Regelung des § 2 NeutrG, welche nicht verfassungswidrig sei. |
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Das beklagte Land trägt dazu vor, dass das Berliner NeutrG kein umfassendes Kopftuchverbot für alle Schulen und Schularten enthalte. Gemäß § 3 NeutrG seien berufliche Schulen und Einrichtungen des zweiten Bildungsweges von der Neutralitätspflicht ausgenommen. Lehrkräfte, die religiös konnotierte Kleidung aus religiösen Gründen nicht ablegen wollten, hätten somit die Möglichkeit auf andere öffentliche Schulen auszuweichen. Die Klägerin sei auch zu einem Casting am 27.05.2015 eingeladen worden. Anders als am 29.04.2015 seien bei diesem Casting nicht nur Lehrkräfte für Grundschulen, sondern auch für Berufsschulen gesucht worden. Mit ihrem Abschluss sei die Klägerin für den Einsatz als Lehrkraft an einer beruflichen Schule geeignet. An diesen Schulen sei für weibliche Lehrkräfte das Tragen von islamischen Kopftüchern rechtlich zulässig. Durch ihr Ausbleiben beim Vorstellungsgespräch am 27.05.2015 habe die Klägerin sich um die Möglichkeit gebracht, als Lehrkraft an einer Berliner Schule angestellt zu werden. Aufgrund der Einrichtung zahlreicher Willkommensklassen auch in den Berufsschulzentren benötige das beklagte Land zahlreiche neue Lehrkräfte. Bei einer Einstellung beim beklagten Land als Lehrkraft müsse die Klägerin ohnehin damit rechnen, aufgrund des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts auch an einer Berufsschule eingesetzt zu werden. Eine beim beklagten Land angestellte Lehrkraft habe keinen Anspruch auf Unterrichtstätigkeit ausschließlich in einem bestimmten Schultyp. Der der Klägerin im Gütetermin angebotene Arbeitsvertrag entspreche denjenigen Verträgen, die alle beim beklagten Land angestellten Lehrkräfte erhielten. […]
Gründe: |
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Die zulässige Klage ist unbegründet. I. Der auf Zahlung einer Entschädigung gerichtete Klageantrag ist zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). […] II. |
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Der persönliche Anwendungsbereich des AGG ist eröffnet. 1. Als Bewerberin ist die Klägerin „Beschäftigte“ nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG. Die Ernsthaftigkeit der Bewerbung der Klägerin ist nicht in Frage gestellt. Da das beklagte Land um Bewerbungen für das von ihr angestrebte Beschäftigungsverhältnis nachgesucht hat, ist sie „Arbeitgeberin“ iSd. § 6 Abs. 2 Satz 1 AGG. |
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2. Die Fristen zur Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs (§ 15 Abs. 4 AGG) und zur Klageerhebung (§ 61b Abs. 1 ArbGG) hat die Klägerin eingehalten. […] III. |
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Die Klägerin wurde wegen ihrer Religionszugehörigkeit iSd § 3 Abs.1 AGG unmittelbar benachteiligt. |
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Eine unmittelbare Benachteiligung iSd. § 3 Abs. 1 AGG liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde, wobei die sich nachteilig auswirkende Maßnahme direkt an das verbotene Merkmal anknüpfen muss. |
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Die Klägerin wurde nicht für eine Lehrerstelle an einer Berliner Grundschule ausgewählt, wodurch sie eine ungünstigere Behandlung als diejenigen Bewerber erfahren hat, die für eine Erstanstellung an einer Berliner Grundschule ausgewählt worden sind. |
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Sie befand sich auch in einer vergleichbaren Situation, weil sie für eine Lehrertätigkeit an einer Grundschule objektiv geeignet ist. […] |
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Ein Kausalzusammenhang zwischen der benachteiligenden Behandlung und dem Anknüpfungsmerkmal Religion besteht. |
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Die Klägerin wurde im Bewerbungsgespräch am 29.04.2015 gefragt, ob sie das Kopftuch im Unterricht tragen wolle. Die Klägerin bejahte diese Frage. Eine Vertreterin der Schulverwaltung wies auf das in Berlin geltende Neutralitätsgesetz hin, welches den Lehrkräften das Tragen religiöser Symbole und Kleidungsstücke untersage. Später erfolgte die Absage seitens des beklagten Landes. Es liegen damit Indizien gemäß § 22 AGG vor, die für ein unmittelbares Anknüpfen an die Religion sprechen. […] |
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Das Kopftuch trägt die Klägerin nach eigenem Bekunden als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot, woran auch vor dem Hintergrund ihrer Tätigkeit als Lehrerin für islamischen Religionsunterricht keine Zweifel bestehen. |
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Soweit das beklagte Land auf die Möglichkeit der Unterrichtstätigkeit an einer Berufsschule verwiesen hat, spricht das nicht gegen eine Benachteiligung, weil die Klägerin sich im Rahmen des Bewerbungsgesprächs vom 29.04.2015 um die Stelle einer Grundschullehrerin beworben hat. Denn im Rahmen des Bewerbungsgesprächs vom 29.04.2015 wurden ausschließlich Lehrkräfte für Grundschulen gesucht. Dies ergibt sich mittelbar aus dem Vortrag des beklagten Landes, wonach bei dem Casting vom 27.05.2015, anders als bei dem Casting vom 29.04.2015, nicht nur Lehrkräfte für Grundschulen, sondern auch für Berufsschulen gesucht wurden […]. IV. |
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Die unterschiedliche Behandlung der Klägerin aus religiösen Gründen kann aber nach § 8 AGG zulässig sein, wenn die Verpflichtung von Lehrkräften nach § 2 NeutrG, auffallend religiös geprägte Kleidungsstücke nicht zu tragen, eine wesentliche berufliche Anforderung ist. Diese Unterlassungspflicht ist dann eine zulässige berufliche Anforderung iSd § 8 Abs.1 AGG, wenn der damit verfolgte Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. |
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Im Streitfall ist zwar nicht eine bestimmte Religionszugehörigkeit oder gerade deren Fehlen Voraussetzung für die Ausübung der fraglichen Tätigkeit. Gleichwohl liegt ein Anwendungsfall von § 8 Abs. 1 AGG vor. Der Klägerin gereicht eine bestimmte Form ihrer Religionsausübung – das Tragen des islamischen Kopftuchs - zum Nachteil. Deren Unterlassung wird aufgrund des Verbots gemäß § 2 Satz 1 NeutrG zu einer wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung iSd § 8 Abs.1 AGG für die Unterrichtstätigkeit der Klägerin an einer Grundschule. |
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Es sind somit die beiden Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 8 Abs.1 AGG - rechtmäßiger Zweck und angemessene Anforderungen – bei der Anwendung der Verbotsvorschrift des § 2 NeutrG zu prüfen. |
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1. rechtmäßiger Zweck […] Betroffen von dem besonderen Neutralitätsgebot sind nach dem hier streitigen Gesetz die Beamten und Angestellten aus den Bereichen der Rechtspflege, des Justizvollzugs, der Polizei und der öffentlichen Schulen. Für die Lehrkräfte an öffentlichen Schulen soll nach der Gesetzesbegründung das Bekleidungsverbot auch dem Schutz von Grundrechtspositionen der nicht- bzw. andersgläubigen Schüler und der erziehungsberechtigten Eltern dienen. |
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Die Wahrung des aus der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs.1 GG folgenden Grundsatzes staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen […] ist verfassungsrechtlich ein rechtmäßiges Ziel. |
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Diese gesetzgeberische Zielsetzung ist auch ein rechtmäßiger Zweck iSv Art. 4 Abs.1 der RL 2000/78/EG, dessen Umsetzung § 8 AGG dient. |
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Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass ein Verbot, während des Unterrichts an öffentlichen Schulen religiöse Symbole zu tragen, eine gem. Art. 9 Abs.2 EMRK notwendige Einschränkung der nach Art. 9 Abs.1 EMRK gewährleisteten Religionsfreiheit eines Lehrers ist, welches wegen der möglichen Beeinträchtigung der Grundrechte der Schüler und Eltern ausgesprochen wird, um die Neutralität des Unterrichts zu gewährleisten. […] |
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Da in den Erwägungsgründen Nr. 4 und Nr. 5 der RL 2000/78/EG ausdrücklich die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten der EMRK genannt wird, kann die vorgenannte Rechtsprechung des EGMR hier angewandt werden. Europarechtlich wird mit § 2 NeutrG ein rechtmäßiger Zweck verfolgt. |
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2. angemessene Anforderung Die streitige Frage, ob die Verpflichtung der Lehrkräfte des beklagten Landes, im Schuldienst keine religiös konnotierten Kleidungsstücke zu tragen, ein unverhältnismäßiger Eingriff in die individuelle Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gemäß Art. 4 Abs.1 und 2 GG ist und deshalb keine angemessene Anforderung iSd § 8 AGG darstellt, hat der Landesgesetzgeber mit Erlass des (pauschalen) Verbots gemäß § 2 NeutrG entschieden. Ausweislich der Begründung der Beschlussvorlage des Senats hat das Abgeordnetenhaus in Ansehung und Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen über die Gesetzesvorlage entschieden. |
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Das Arbeitsgericht ist wie die Schulverwaltung gemäß Art. 20 Abs.3 GG, Art. 80 Verfassung von Berlin an die Gesetze und damit auch an § 2 NeutrG gebunden. Die Voraussetzungen einer Vorlage gemäß Art. 100 Abs.1 GG an das BVerfG bzw. gemäß Art. 100 Abs.1 GG iVm Art. 84 Abs.2 Nr. 4 Verfassung von Berlin lagen nicht vor, denn es fehlt die dafür erforderliche Überzeugung der Kammer von der Verfassungswidrigkeit des § 2 NeutrG. […] |
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Die Richtervorlage ist damit an zwei Zulässigkeitsvoraussetzungen gebunden: Das Fachgericht muss von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt sein und diese Norm muss entscheidungserheblich sein. |
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a) Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit |
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Im vorliegenden Fall ergeben sich aufgrund der Entscheidung des BVerfG vom 27.01.2015 - 1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10 - zur Regelung in § 57 Abs.4 SchulG des Landes Nordrhein-Westfalen („Kopftuch II“) Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des in § 2 NeutrG enthaltenen Verbots. […] [Die Einzelheiten zu diesem Fall sind hier nachlesbar] |
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Auch das im beklagten Land für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen geltende Verbot gemäß § 2 Satz 1 NeutrG, sichtbare religiöse Symbole und auffallend religiös geprägte Kleidungsstücke zu tragen, greift in die individuelle Religionsfreiheit der Lehrkräfte ein. |
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Die Regelung des beklagten Landes untersagt, das Tragen religiöser Kleidungsstücke generell. Die Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals „Eignung für die Gefährdung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität“, so wie es in § 57 Abs.4 Satz 1 SchulG NW enthalten ist, verlangt die Berliner Regelung nicht. Das Verbot für bestimmte Schultypen ist pauschal und unabhängig von einer im Einzelfall konkret festzustellenden Gefahr gewollt, weshalb eine einschränkende und verfassungskonforme Auslegung des § 2 Satz 1 NeutrG entsprechend der Entscheidung des BVerfG vom 27.01.2015 auch nicht möglich ist […]. Bei einer isolierten Betrachtung des § 2 NeutrG sprechen die vom BVerfG in der Kopftuch-II-Entscheidung aufgestellten Grundsätze für die Verfassungswidrigkeit der Verfassungsnorm. |
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Das Gericht sieht allerdings Besonderheiten der Berliner Regelung im Vergleich zu § 57 Abs.4 SchulG NW, die dazu führen, dass es nicht von der Verfassungswidrigkeit der Berliner Vorschrift vollständig überzeugt ist. Deshalb liegen die Voraussetzungen einer Vorlagepflicht nach Art. 100 GG nicht vor. |
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[…] Das Einbringen religiöser oder weltanschaulicher Bezüge in Schule und Unterricht durch Lehrkräfte könne den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigen. Es eröffne zumindest die Möglichkeit einer Beeinflussung der Schulkinder sowie von Konflikten mit Eltern. Sollen bereits derartige bloße Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts auf Grund des Auftretens der Lehrkraft und nicht erst deren konkretes Verhalten als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten oder als Eignungsmangel bewertet werden, so sei eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage erforderlich. Es obliege deshalb dem Landesgesetzgeber, das Spannungsverhältnis zwischen positiver Glaubensfreiheit der Lehrkräfte einerseits und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der negativen Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler andererseits im Rahmen einer gesetzlichen Rechtsgrundlage zu lösen und im öffentlichen Willensbildungsprozess einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen. |
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Dem Gesetzgeber wurde damit ein Gestaltungsspielraum zugewiesen, welcher es ihm ermöglicht, gesetzlich zu regeln, inwieweit er religiöse Bezüge in der Schule zulässt oder wegen eines strikteren Neutralitätsverständnisses aus der Schule heraushält. […] |
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Dieser bestehende Gestaltungsspielraum der Länder schließt ein, dass die einzelnen Länder zu verschiedenen Regelungen kommen können, weil bei dem zu findenden Mittelweg auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden dürfen […]. |
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Es gibt verschiedene Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass das beklagte Land diesen Gestaltungsspielraum mit dem beschriebenen Inhalt bei der Schaffung des NeutrG nicht überschritten hat. […] |
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Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Berliner Regelung nicht ausschließlich den Bereich des Schulunterrichts in bestimmten Schultypen betrifft, sondern alle Bereiche der Verwaltung, in denen die Beschäftigten des beklagten Landes im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit typischerweise dem Bürger persönlich gegenüber treten, um auch Hoheitsrechtsrechte auszuüben. […] |
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Die Glaubwürdigkeit des Handelns staatlicher Hoheitsträger setzt die strikte Einhaltung der verfassungsrechtlich gebotenen Neutralität voraus. […] Demgemäß hat der Staat eine Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften zu vermeiden […]. |
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Die staatliche Unparteilichkeit hat auch der Senat des beklagten Landes gemäß seiner Beschlussvorlage als Grundbedingung für ein friedliches Zusammenleben verschiedener religiöser und weltanschaulicher Gruppierungen gesehen. Dabei sei auch die Besonderheit des Landes Berlin zu berücksichtigen, „das mit seiner großstädtischheterogenen Bevölkerungsstruktur und seiner konfessionellen Vielgestaltigkeit ein besonderes Konfliktpotential bietet und daher stärker nach einer restriktiven Regelung verlangt“. |
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Demzufolge wird gemäß § 1 NeutrG das Tragen religiöser Symbole und Kleidungsstücke zunächst für die Bereiche der Rechtspflege, des Justizvollzugs und der Polizei eingeschränkt. |
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Es ist konsequent und aus Sicht der Kammer verfassungsrechtlich zulässig, diese Einschränkung auch auf Lehrkräfte an öffentlichen Schulen zu erstrecken. Denn „gerade bei Schülerinnen und Schülern kann eine intensive Konfrontation mit Überzeugungen der Lehrkräfte und des übrigen pädagogischen Personals zum Gefühl der Ablehnung oder einer erzwungenen Anpassung führen“. […] |
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Zu Recht wird in der Beschlussvorlage des Senats des beklagten Landes auf die besondere Entwicklung in der Großstadt Berlin hingewiesen, in der Personen verschiedenster Konfessionen und Überzeugungen auf engem Raum zusammenleben und in öffentlichen Bereichen aufeinander treffen. […] |
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Dass diese Einschätzung des Gesetzgebers zu den Konfliktpotentialen auch für die Schulen des Landes Berlin besonders realitätsnah ist, zeigt eine Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg zum eingeklagten Anspruch eines Schülers auf Gebetsverrichtung in der Schule (Urt. v. 27.05.2010 – 3 B 29/09), in welcher die ausgeprägte religiöse Heterogenität an einem Berliner Gymnasium beschrieben wird. […] |
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Vor dem Hintergrund derartiger Konflikte an Berliner Schulen gewinnt die Gewähr einer neutralen Streitschlichtung durch die jeweilige Lehrkraft ein besonderes Gewicht. Deshalb hat der Staat das Neutralitätsgebot nicht nur bei der Gestaltung der Räumlichkeiten in öffentlichen Schulen zu beachten […], sondern auch bei der Beschäftigung der in diesen Räumen unterrichtenden Lehrkräfte, die in Streitigkeiten der beschriebenen Art nur dann als Schlichter und Erzieher über genügend Autorität und Vorbildfunktion verfügen, wenn sie sich nicht gegenüber den Schülern durch eindeutig religiös geprägte Kleidungsstücke auf eine bestimmte Form der Religionsausübung festlegen. |
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Weiter ist zu berücksichtigen, dass eine Lehrkraft durch die strikte Einhaltung bestimmter religiös begründeter Bekleidungsvorschriften Position in einer innerreligiös geführten Debatte um die richtige Frömmigkeit bezieht und damit kraft ihrer Stellung und Entscheidungsbefugnisse Einfluss auf diejenigen Schüler und Eltern derselben Religionszugehörigkeit ausüben kann, deren Vorstellungen von der richtigen Religionsausübung in eine ganz andere Richtung gehen. Die eindeutige religiöse Bekleidung einer Lehrkraft kann auch auf diejenigen Schüler oder Eltern psychischen Druck ausüben, die sich von ihrer durch Familientradition erworbenen Religionszugehörigkeit trennen bzw. moderat lösen wollen. Diese Wirkung muss dabei nicht von der Lehrkraft beabsichtigt sein, folgt aber aus ihrer Stellung, welche mit den staatlichen Befugnissen zur Notengebung, Versetzungsentscheidung, Empfehlung für die weiterführende Schule etc. verbunden ist. Insoweit liegt ein nicht zu vernachlässigender Eingriff in die Religionsfreiheit der Schüler und das Erziehungsrecht der Eltern vor. |
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Es kann deshalb entsprechend der Begründung der abweichenden Meinung zur Entscheidung des BVerfG vom 27.01.2015 (Kopftuch II) nicht allein darauf abgestellt werden, dass der Staat eine ihm unmittelbar nicht zuzurechnende individuelle Grundrechtsausübung seiner Pädagogen nur dulde und die Schüler lediglich eine bestimmte Bekleidung der Pädagogen anzuschauen hätten, die erkennbar auf deren individuelle Entscheidung zurück gehe. Eine solche vereinfachende Differenzierung zwischen dem Staat zurechenbaren Symbolen und individueller religiös konnotierter Bekleidung von Pädagogen blendet die Wirkung aus, die auch die individuelle Grundrechtsausübung einer Lehrperson auf Schülerinnen und Schüler haben kann. |
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Die Lehrkräfte genießen zwar ihre individuelle Glaubensfreiheit. Zugleich sind sie aber Amtsträger und damit der fördernden Neutralität des Staates auch in religiöser Hinsicht verpflichtet. […] |
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Es liegt deshalb im verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraum des beklagten Landes, wenn es unter Berücksichtigung der spezifischen Situation der Großstadt Berlin das unvermeidliche Spannungsverhältnis der gegenläufigen Rechtsgüter von Verfassungsrang durch eine stärkere Gewichtung des staatlichen Erziehungsauftrags, der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, sowie den Schutz des elterlichen Erziehungsrechts und der negativen Glaubensfreiheit der Schüler auflöst. |
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Für die verfassungsmäßige Verhältnismäßigkeit des § 2 NeutrG spricht auch, dass das Verbot des Tragens religiöser Symbole und Kleidungsstücke gemäß § 3 NeutrG nicht für die beruflichen Schulen, zu denen in Berlin die Berufsschule, Berufsfachschule, Fachoberschule, Berufsoberschule und Fachschule gehören, und die Einrichtungen des zweiten Bildungsweges gilt. […] Auch die Klägerin hätte für das beklagte Land in einer der verschiedenen berufsbildenden Schulen – eventuell in einer der dort eingerichteten Willkommensklassen – unterrichten können. |
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Auch für das Personal von Kinderbetreuungseinrichtungen wurde eine differenzierte Regelung zur Durchsetzung des Neutralitätsgebots geschaffen, welche wegen der Freiwilligkeit des staatlichen Betreuungsangebots im Gegensatz zur gesetzlichen Schulpflicht im Ausgangspunkt kein pauschales Verbot religiös geprägter Kleidung vorsieht. |
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Letztlich hat die Kammer berücksichtigt, dass das NeutrG nicht wie das nordrheinwestfälische Schulgesetz eine gleichheitswidrige Privilegierungsbestimmung zugunsten der Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen enthält. Das Berliner Neutralitätsgesetz behandelt alle Religionen und Glaubensbekenntnisse gleich. […] |
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b) Entscheidungserheblichkeit Da die Kammer keine über Zweifel hinausgehende Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 2 NeutrG hat, kam es nicht auf die Frage der Entscheidungserheblichkeit dieser Norm an. Es musste deshalb auch nicht geklärt werden, ob hier die Entscheidungserheblichkeit ausscheidet, weil § 2 NeutrG nicht mit Unionsrecht - insbesondere der RL 2000/78/EG und Art. 10 GRC – unvereinbar und deshalb unanwendbar ist. V. |
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Eine Vorlage an den EuGH nach Art. 267 Abs.1 AEUV war nach Auffassung der Kammer auch aus sonstigen Gründen nicht angezeigt. § 2 NeutrG verstößt nicht gegen Unionsrecht. […] |
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Es ist insoweit zu prüfen, ob die Regelung des § 2 NeutrG, welche Lehrkräften das Tragen religiöser Kleidungsstücke untersagt, ein verhältnismäßiges Erfordernis aufstellt, dh ob dieses Verbot geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist. |
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An der Geeignetheit des Verbots des Tragens religiös geprägter Kleidungsstücke zur Durchsetzung des Neutralitätsgebots bestehen keine Zweifel. |
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Die Kammer geht davon aus, dass dieses Verbot unionsrechtlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht und angemessen iSd Art. 4 Abs.1 der RL 2000/78/EG ist. Denn nach der bereits zitierten Rechtsprechung des EGMR stellt das Verbot für eine Lehrerin an einer Grundschule, während des Unterrichts ein islamisches Kopftuch zu tragen, zwar einen Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs.1 EMRK, der aber i.S. von Art. 9 Abs.2 nicht unverhältnismäßig ist, wenn dadurch dem Grundsatz der konfessionellen Neutralität der Schule Geltung verschafft werden soll. Ein Verstoß gegen das Recht auf Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK und das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK liegt deshalb nicht vor und § 2 Satz1 NeutrG verstößt nicht gegen Art. 10 und Art. 14 GRC. […] |
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