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Rechtsurteile

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Befreiung vom Sexualkundeunterricht

Eine Befreiung vom Sexualkundeunterricht kommt nicht in Betracht, wenn die Schule dabei durch Zurückhaltung und Toleranz darauf achtet, dass keine unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikte für Eltern und Schülern entstehen. Dies wird regelmäßig dadurch gewährleistet, dass die Schule den Schülern gegenüber kein Sexualverhalten befürwortet oder ablehnt und dadurch und damit eine Indoktrinierung der Schüler vermeidet. (Leitsatz der Redaktion)


Leitsatz:

Die den Schulen auf dem Gebiet der Sexualerziehung auferlegten Gebote der Zurückhaltung und Toleranz stellen regelmäßig sicher, dass unzumutbare Glaubens- und Gewissenskonflikte bei Eltern und Schülern nicht entstehen. [...]

 

Beschluss:

[...] Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. September 2007 wird zurückgewiesen. [...]

 

Gründe:

 

Die Beschwerde, die sich auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (1.) und der Divergenz (2.) stützt, hat keinen Erfolg.

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1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne dieser Vorschrift ist eine Rechtssache nur, wenn eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts im Interesse der Einheit oder Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Den Darlegungen der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

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a) Die Kläger halten für klärungsbedürftig, ob „die Befreiung eines Schülers von einer Unterrichtseinheit Sexualerziehung zulässig ist“. Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Denn zum einen ist sie bereits grundsätzlich geklärt; zum anderen würde sie sich nach dem hier anwendbaren Landesrecht - in der maßgeblichen Auslegung durch das Berufungsgericht - in einem Revisionsverfahren in dieser Form nicht stellen.

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Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass eine Zustimmung der Eltern zu der schulischen Sexualerziehung - mit der Folge einer Befreiung des Kindes im Falle fehlender Zustimmung - verfassungsrechtlich jedenfalls dann nicht verlangt werden kann, wenn die betreffende Unterweisung fächerübergreifend erfolgt. Sofern die Sexualerziehung als gesondertes Lehrfach oder besondere Unterrichtseinheit betrieben wird, ist es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers, eine Regelung zu treffen, die dem elterlichen Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und möglichen Gewissenskonflikten gerecht wird [...]. Unter Auslegung und Anwendung irrevisiblen Landesrechts hat das Berufungsgericht dazu ausgeführt, dass es sich bei der hier streitgegenständlichen Sexualerziehung um eine einzelne Unterrichtsveranstaltung im Sinne von § 43 Abs. 3 Satz 1 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen - SchulG - vom 15. Februar 2005 [...] handelt, von der eine Befreiung aus wichtigem Grund nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats [...] hat es aber angenommen, dass die gesetzliche Verpflichtung der Schule zu Zurückhaltung, Offenheit und Toleranz die Schwere der möglichen Beeinträchtigung der Kläger so weit mildere, dass ein wichtiger Grund für eine Befreiung ausscheide. Ein darüber hinausgehender allgemeiner Klärungsbedarf in Bezug auf das revisible Recht ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.

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b) Die Kläger wollen weiter geklärt wissen, „ob sich § 33 SchulG in den Grenzen der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts hält und ein demgemäßer Unterricht keine rechtswidrigen Grundrechtseingriffe bewirken kann“. So gestellt, kann diese Frage die Zulassung der Revision nicht begründen. Dem Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO wird nicht schon dadurch genügt, dass eine maßgebliche Norm des Landesrechts als bundesrechtlich bedenklich angesehen wird. [...]

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aa) Dies gilt zunächst für die von den Klägern sinngemäß gestellte Frage, ob die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 GG eine gesetzliche Regelung gebieten, wonach die Schule bei der Durchführung der Sexualerziehung Zurückhaltung und Toleranz zu üben und auf die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern Rücksicht zu nehmen hat. Diese Frage lässt sich auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung ohne weiteres beantworten. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Eltern das Recht zur Erziehung ihrer Kinder garantiert, gewährt zusammen mit der in Art. 4 Abs. 1 GG verbürgten Glaubens- und Gewissensfreiheit das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Danach ist es Sache der Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln und nicht geteilte Ansichten von ihnen fernzuhalten. Diese Grundrechte sind aber Einschränkungen zugänglich, die sich aus dem Erziehungsauftrag des Staates (Art. 7 Abs. 1 GG) ergeben. Konflikte zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern und dem Erziehungsauftrag des Staates sind nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zu lösen [...].

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In Bezug auf den Sexualkundeunterricht folgt daraus, dass die Eltern zwar kein Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung der schulischen Sexualerziehung haben, wohl aber insoweit Zurückhaltung und Toleranz verlangen können. Die Schule muss den Versuch einer Indoktrinierung der Schüler mit dem Ziel unterlassen, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen. Sie hat das natürliche Schamgefühl der Kinder zu achten und muss allgemein Rücksicht nehmen auf die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern, soweit sie sich auf dem Gebiet der Sexualität auswirken. [...] Das Oberverwaltungsgericht hat im Hinblick auf die Verpflichtung der Schule zu Zurückhaltung, Toleranz und Offenheit für unterschiedliche Wertungen sowie auf das Verbot der Indoktrinierung - nichts anderes gilt für das darin eingeschlossene Gebot der Rücksichtnahme auf divergierende Überzeugungen der Eltern - im Einzelnen ausgeführt, dass diese Anforderungen zwar nicht ausdrücklich im Wortlaut des § 33 SchulG enthalten sind, sich aber aus dieser Vorschrift sowie aus den in § 2 Abs. 5 und 6 SchulG niedergelegten Bildungszielen eindeutig entnehmen lassen. An diese Auslegung des irrevisiblen Landesrechts ist der Senat gebunden.

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Aus diesen Grundsätzen folgt allerdings entgegen der Auffassung der Kläger nicht, dass die Schule bei der Sexualerziehung „zurückzuweichen“ hat, wenn Eltern ihre abweichenden Auffassungen begründet darlegen. Verfassungsrechtlich ist vielmehr geklärt, dass ein mit allen Eltern eines jeden Kindes abgestimmtes Zusammenwirken der Schule in Fragen der Sexualerziehung nicht geboten ist [...]. Wie schon ausgeführt, mildert vielmehr die der Schule auferlegte Pflicht zu Zurückhaltung, Offenheit und Toleranz die Schwere der möglichen Beeinträchtigung der Eltern und ihrer Kinder bei der Sexualerziehung so weit ab, dass die Unzumutbarkeitsschwelle nicht überschritten wird. [...]

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bb) Die Kläger fragen sinngemäß weiter, ob eine landesgesetzliche Regelung über die schulische Sexualerziehung, die die Vorbereitung auf eine „gleichberechtigte Rolle in Ehe, Familie und anderen Partnerschaften“ als Lernziel vorgibt (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 4 SchulG), das Erziehungsrecht der Eltern verletzt. [...] Ziel der angegriffenen Regelung in § 33 Abs. 1 Satz 4 SchulG ist nicht die Nivellierung der Unterschiede zwischen der Ehe und nichtehelichen Partnerschaften, sondern die Anbahnung eines auf Gleichberechtigung angelegten Rollenverständnisses in jedweder zukünftigen Partnerschaft. Wie im Berufungsurteil zutreffend ausgeführt, ist dabei nicht zu beanstanden, dass der Staat gemäß dem ihm durch Art. 7 Abs. 1 GG anvertrauten Erziehungsauftrag die tatsächlichen Gegebenheiten in der Gesellschaft berücksichtigt, in der Partnerschaft nicht allein in Form der Ehe, sondern in beträchtlichem Umfang auch in anderen Formen gelebt wird.

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cc) Auch die sinngemäß gestellte Frage, ob eine gesetzliche Regelung, die wie § 33 Abs. 1 Satz 5 SchulG die „Förderung der Akzeptanz unter allen Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und Identität und den damit verbundenen Beziehungen und Lebensweisen“ zum Bildungsziel erhebt, mit dem elterlichen Erziehungsrecht vereinbar ist, führt die Beschwerde nicht zum Erfolg. Eine Sexualerziehung, die jede Art sexuellen Verhaltens gleichermaßen bejahen oder gar befürworten würde, verstieße zwar eindeutig gegen das Zurückhaltungs- und Rücksichtnahmegebot, welches die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG dem Staat bei der Ausgestaltung des Sexualkundeunterrichts auferlegen. Das Berufungsgericht hat den in der Tat missverständlichen Begriff „Akzeptanz“ aber - für den Senat bindend - in einer Weise ausgelegt, die mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben (noch) vereinbar ist. Danach ist Akzeptanz in dem hier verwendeten Zusammenhang nicht gleichbedeutend mit Billigung. Das Oberverwaltungsgericht versteht das darin angesprochene Erziehungsziel vielmehr dahin, dass „die Menschen einander akzeptieren (sollen) unabhängig von der jeweiligen sexuellen Orientierung und Lebensweise, die sie bei ihrem Gegenüber ggf. gerade nicht billigen“ [...]. Die Anleitung zur Toleranz gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und innerhalb der Grenzen der Rechtsordnung ausgeübten sexuellen Verhaltensweisen ist aber, wie die Kläger selbst nicht verkennen, ein legitimes staatliches Erziehungsziel.

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c) Auch im Hinblick auf die zur Ausführung des Gesetzes erlassenen Richtlinien für die Sexualerziehung in Nordrhein-Westfalen genügt es aus den oben genannten Gründen für die Zulassung der Revision nicht, dass die Kläger die Richtlinien als solche für verfassungsrechtlich bedenklich halten. [...]

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aa) Soweit die Kläger geklärt wissen wollen, ob Vorgaben in den Richtlinien, wonach „Sexualität zum Alltag von Kindern und Jugendlichen gehört“, Kinder und Jugendliche über den Sexualkundeunterricht „mitentscheiden können“ und „die schulische Sexualerziehung von Lebenssituationen der Kinder und Jugendlichen ausgeht, an deren Fragen anknüpft oder sich an konkreten Erlebnissen und aktuellen Situationen orientiert“ (Nr. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinien), die verfassungsrechtlichen Anforderungen einhalten, führt dies nicht auf eine allgemein klärungsbedürftige Frage des revisiblen Rechts. In der Rechtsprechung ist bereits geklärt, dass zwar die altersgemäße Vermittlung des notwendigen sexualkundlichen Sachwissens schon frühzeitig erfolgen kann, dies aber nicht dazu führen darf, dass sich Zeitpunkt und Intensität schulischer Sexualerziehung nach dem fortgeschrittenen Reifegrad einiger weniger Schüler richten, sondern auf die Alters- und Reifesituation aller Schüler einer Klasse angemessen Rücksicht genommen werden muss [...]. Dem tragen die Richtlinien dadurch Rechnung, dass sie eine alters- und entwicklungsgemäße Sexualerziehung fordern (Nr. 1 Abs. 4) und dass die Bedürfnisse einzelner Kinder oder Gruppen ihrem Alter und ihrem Entwicklungsstand entsprechend beachtet werden müssen (Nr. 3 Abs. 2). Aus dem Gesamtzusammenhang der genannten Bestimmungen, die nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts im Schulalltag auch tatsächlich umgesetzt werden, ergeben sich mit hinreichender Deutlichkeit die verfassungsrechtlich gebotenen Schranken des Sexualkundeunterrichts.

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bb) Ebenso wenig ergibt sich im Hinblick auf die in den Richtlinien ausdrücklich geforderte „Achtung des Schamgefühls der Kinder“ (Nr. 3 Abs. 7) eine allgemein klärungsbedürftige Rechtsfrage nach der Reichweite des schulischen Bildungsauftrages im Verhältnis zum elterlichen Erziehungsrecht. Soweit zu den Lernzielen auch gehört, „junge Menschen dabei zu unterstützen, ihre kommunikative Kompetenz in Fragen der Sexualität auszuprägen“ (Nr. 1 Abs. 7 der Richtlinien) und im Zusammenhang mit der Empfängnisverhütung „die emotionalen Hemmschwellen abzubauen“ (Nr. 5.6 Abs. 3 der Richtlinien) dürfen diese Ziele nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind eingebettet in die Forderung nach Respekt, Achtung des Schamgefühls und Toleranz, die es gebietet, besonders einfühlsam über die Werte und Normen hinsichtlich der Sexualität und des Sexualverhaltens zu informieren (s. Nr. 3 Abs. 7 der Richtlinien). Ein darüber hinausgehender grundsätzlicher Klärungsbedarf ist weder dargetan noch ersichtlich.

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cc) Grundsätzlich klärungsbedürftig ist auch nicht, ob Richtlinien über die Sexualerziehung, die in einem umfänglichen Abschnitt über „Körper und Sexualität“ nur in einem Halbsatz auf „die mögliche Entscheidung für Verzicht und Enthaltsamkeit“ hinweisen [...] Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass die Richtlinien in diesem Punkt offen sind, also keine Bewertung für oder gegen den vorehelichen Geschlechtsverkehr einerseits bzw. Enthaltsamkeit und Keuschheit andererseits vornehmen. Damit verletzen sie nicht die Grenzen des verfassungsrechtlichen Indoktrinationsverbots, sondern halten diese umgekehrt gerade ein. [...]

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dd) Die Revision ist ferner nicht zuzulassen zur Klärung der Frage, ob Richtlinien, die Hetero-, Bi-, Homo- und Transsexualität als gleichwertige Ausdrucksformen von Sexualität vorgeben, mit dem Indoktrinationsverbot vereinbar sind. [...] Die Kläger missverstehen aber die entsprechende Stelle der angegriffenen Richtlinien (Nr. 5.4 Abs. 2), wenn sie meinen, den Schülern sollten hetero-, bi-, homo- und transsexuelle Orientierungen und Verhaltensweisen in wertfreier Beliebigkeit nahegebracht werden. Die Worte „ohne Unterschiede im Wert“ beziehen sich nach der überzeugenden Auslegung des Berufungsgerichts nicht abstrakt auf die genannten unterschiedlichen Ausdrucksformen der Sexualität, sondern auf die Behandlung der Persönlichkeit von Individuen und wenden sich im Sinne einer Ermahnung zu Toleranz gegen eine (Ab-)Wertung einzelner Menschen. Es ist offensichtlich und bedarf keiner Klärung im Revisionsverfahren, dass sich der beanstandete Passus der Richtlinien mit diesem Verständnis innerhalb der Grenzen des Toleranz- und Zurückhaltungsgebotes hält. [...]

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e) Schließlich ist entgegen der Auffassung der Kläger in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits umfassend geklärt und bedarf keiner weiteren Klärung in einem Revisionsverfahren, „wie die Grundrechte nach Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber der staatlichen Schulpflicht zu behandeln sind“, insbesondere, „ob wie beim Sport auch bei der Sexualerziehung bei Konflikten zwischen verfassungsrechtlicher Gewissensfreiheit und verfassungsrechtlich verankerter staatlicher Schulpflicht Befreiungsanträgen stattzugeben ist, wenn die Schule ihre Möglichkeiten der Abhilfe nicht nutzt oder nutzen kann“. [...]

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