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Rechtsurteile

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Befreiung vom Sexualkundeunterricht aus religiösen Gründen

Dem religiösen Interesse der Eltern, welches durch ihr Erziehungsrecht gem. Art. 6 GG geschützt ist, ihre Kinder im Sexualkundeunterricht davor zu bewahren die Schamstellen Anderer zu erblicken, steht der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 GG entgegen. Für die Befreiung vom Sexualkundeunterricht reicht dieses Interesse nach gegenseitiger Abwägung nicht aus. (Leitsatz der Redaktion)


Leitsätze:

1. Über Anträge auf Befreiung von bestimmten Schulunterrichtsveranstaltungen hat nach hamburgischem Landesrecht (§ 28 Abs 3 Satz 1 2 Alt HmbSG (SchulG HA)) die zuständige Schule bei Vorliegen eines wichtigen Grundes nach Ermessen zu entscheiden.

2. Das auf islamische Vorschriften – Mädchen dürften außer Gesicht und Händen die "Aura" eines anderen Menschen nicht betrachten – gestützte Begehren, vom Sexualkundeunterricht befreit zu werden, stellt keinen wichtigen Grund dar.

3. Insoweit überwiegt der staatliche Erziehungsauftrag, Art 7 Abs 1 GG, die Grundrechte auf Erziehung der Kinder nach Maßgabe einer religiösen Überzeugung und das Recht, in jeder Lebenssituation ein religionskonformes Verhalten zu bekunden, Art 6 Abs 1, iVm Art 4 Abs 1, Abs 2 GG.

4. Eine "Erziehung zur Unmündigkeit" wird der sich aus dem Erziehungsrecht ergebenden Elternverantwortung nicht gerecht.

5. Der staatliche Erziehungsauftrag hat auch das berechtigte Interesse der Allgemeinheit an der Verhinderung religiös oder weltanschaulich begründeter Parallelgesellschaften zu wahren.

 

Gründe:

 

Der zulässige Antrag bleibt ohne Erfolg. Den Antragstellerinnen steht kein Anspruch auf Befreiung der Antragstellerinnen zu 2) und 3) vom Biologieunterricht - soweit dort das Fach Sexualkunde behandelt wird - zu. Die von den Antragstellerinnen begehrte, auf eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Unterrichtsbefreiung gerichtete einstweilige Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO ist deshalb nicht auszusprechen.



I.

1

Die Antragstellerinnen stützen ihr Begehren im Wesentlichen auf religiöse Gründe. Die Antragstellerin zu 1) bringt vor, sie sei Muslima und erziehe ihre Töchter, die Antragstellerinnen zu 2) - geboren 1988 - und 3) -  geboren 1989 - , welche die 9. Klasse der Schule … besuchen,  strikt im muslimischen Glauben. Ihr Glaube verbiete es, die "Aura" eines anderen Menschen anzuschauen, wozu bei Mädchen, die bereits ihre Periode hätten, alles außer dem Gesicht und den Händen zu rechnen sei. Es sei für ihre Töchter deshalb nicht möglich, die im Sexualkundeunterricht verwendeten Bilder und Anschauungsmaterialien anzusehen. Dies widerspreche dem Keuschheitsgesetz des Korans und werde von den Kindern als "Sünde" empfunden. Die Teilnahme am Sexualkundeunterricht werde sie deshalb in schwere Gewissenskonflikte stürzen. Die Sexualität finde im Islam nur in der Ehe statt, weshalb vorher auch gar kein Bedarf sei, hierüber aufzuklären.

2

Den zunächst an die Schule gerichteten Antrag lehnte die Schulleiterin ab, weil nach Auskunft der Antragsgegnerin eine Befreiung vom Sexualkundeunterricht "nicht möglich" sei.

3

Auf den "Widerspruch" der Antragstellerin zu 1) teilte die Antragsgegnerin durch die zuständige Oberschulrätin mit, dass der Sexualkundeunterricht für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend sei. Er werde mit "Rücksicht auf die unterschiedlichen kulturellen und religiösen Wertvorstellungen der Beteiligten" erteilt. Sie sehe "keine Möglichkeit, Ihrer Bitte nachzukommen".


II.

4

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich für die Antragstellerinnen kein Anspruch auf die beantragte Unterrichtsbefreiung.

5

1. Die Sexualerziehung in der Schule hat in Hamburg die erforderliche  gesetzliche Grundlage (BVerfG, Beschl. v. 21.12.1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75)  in § 6 Hamburgisches Schulgesetz (HmbSG). Im Unterschied zu § 7 Abs. 3 HmbSG, welcher den Religionsunterricht betrifft, stellt § 6 HmbSG die Teilnahme am Unterricht nicht in die Entscheidung der Erziehungsberechtigten - bzw. nach Vollendung des 14. Lebensjahres der Schülerinnen und Schüler. Die Teilnahme am Sexualkundeunterricht ist somit - als von der Schulpflicht gemäß § 28 Abs. 2 HmbSG umfasst - grundsätzlich obligatorisch. Ein Antrag auf Unterrichtsbefreiung kann nur auf die allgemeine Regelung des § 28 Abs. 3 HmbSG gestützt werden. Nach § 28 Abs. 3 Satz 1 2. Alternative HmbSG kann die Schule auf Antrag aus wichtigem Grund von der Teilnahme an einzelnen Unterrichtsveranstaltungen befreien.

6

Zwar haben sowohl die von den Antragstellerinnen zu 2) und 3) besuchte Schule …als auch die im Rahmen der Schulaufsicht gemäß § 85 Abs. 1 HmbSG zuständige Antragsgegnerin die Anwendbarkeit der zitierten Befreiungsregelung offenbar übersehen und somit das ihnen eingeräumte Befreiungsermessen möglicherweise verkannt. Doch verhilft das dem Begehren der Antragstellerinnen nicht zum Erfolg. Im Ergebnis zu Recht ist die von der Antragstellerin zu 1) beantragte (teilweise) Befreiung von den Unterrichtsveranstaltungen zum Thema Sexualkunde versagt worden. Das in Anwendung von § 28 Abs. 3 Satz 1 HmbSG insoweit eingeräumte Ermessen ist nicht eröffnet, weil für das Begehren der Antragstellerinnen ein wichtiger Grund nicht vorliegt.

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2. Allerdings können sich die Antragstellerinnen auf verfassungsrechtlich geschützte Positionen berufen. Doch verleiht allein dieser Umstand dem Begehren noch nicht das erforderliche Gewicht. Wie noch auszuführen sein wird, unterfallen grundsätzlich alle von Eltern gestellten Befreiungsanträge, wie unzulänglich sie im Einzelfall auch begründet sein mögen,  schon im Hinblick auf  das "Elternrecht",  Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, dem Schutzbereich eines Grundrechts. Das gleiche gilt generell auch für Anträge, die von (grundrechtsmündigen) Schülern gestellt werden, weil sie in jedem Fall von dem Schutzbereich des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 GG,  erfasst werden. Für die Beantwortung der Frage, ob ein wichtiger Grund im Sinne des § 28 Abs. 3 Satz 1 HmbSG vorliegt, kommt es deshalb bereits auf der "Tatbestandsseite" auf die in vollem Umfang gerichtlicher Kontrolle unterliegende (verfassungs)rechtliche Gewichtung der im jeweiligen Einzelfall vorgebrachten Argumente an.

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Das Vorbringen der Antragstellerinnen füllt den unbestimmten Rechtsbegriff des wichtigen Grundes nicht aus.

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a) Das Begehren der Antragstellerin zu 1) unterfällt dem Schutzbereich der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Doch werden die der Antragstellerin insoweit vermittelten Rechtspositionen nach Auffassung des Gerichts durch Gemeinschaftswerte, denen ebenfalls Verfassungsrang zukommt, in ihrem Geltungsanspruch relativiert und im Ergebnis überwogen.

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aa) Art. 4 GG gewährt in Abs. 1 die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und in Abs. 2 das Recht der ungestörten Religionsausübung. Beide Absätze vermitteln ein einheitliches Grundrecht, das sich nicht auf den subjektiven Aspekt der Einstellung zu bestimmten Glaubensfragen beschränkt, sondern auch die äußere Freiheit umfasst, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Der Einzelne hat danach das Recht, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten, seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln und in jeder Lebenssituation ein Verhalten zu bekunden, das er nach Maßgabe seiner religiösen Überzeugungen für richtig erachtet (BVerfG i.st.Rspr., vgl. zuletzt Urt. v. 24.09.2003 - "Lehrerin mit Kopftuch"- 2 BvR 1436/02 […]).

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bb) Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht. Aus diesem Elternrecht und aus den nach Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG bestehenden Rechten resultiert das Recht zur Kindererziehung auch in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. In erster Linie die Eltern sind von daher berechtigt, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten und entsprechend die Kinder vor als falsch oder schädlich erachteten Einflüssen zu bewahren […]. Dieses Recht der Eltern wird durch die Religionsmündigkeit der Kinder jedenfalls dann nicht obsolet, wenn deren auf Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG gestützte Überzeugungen - wie es vorliegend der Fall ist – den von den Eltern vertretenen entsprechen.

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cc) Zwar sind Glaubensfreiheit und Erziehungsrecht nach der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet, doch erfahren sie Einschränkungen, die sich aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang […]. Entscheidendes Gewicht besitzt insoweit die in Art. 7 Abs. 1 GG verankerte Schulaufsicht des Staates. Über die Befugnis zur Planung und Organisation des Schulwesens hinaus verleiht sie dem Staat einen Erziehungsauftrag, welcher dem Erziehungsrecht der Eltern gleichgeordnet ist. Dieser Erziehungsauftrag ist nicht etwa auf die bloße Vermittlung von Wissensstoff beschränkt, sondern hat auch und wesentlich insofern die Vermittlung von Werten zum Inhalt, als es gilt, das einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.12.1977 […]). Hierdurch erfährt das Erziehungsrecht der Eltern auch in seiner religiösen Ausprägung eine verfassungsimmanente Beschränkung (vgl. etwa BVerfG, Urt. v. 24.09.2003 […]).

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dd) Es ist fraglos das Recht der Antragstellerin zu 1), ihren Kindern die von ihr für richtig gehaltene Erziehung auch und - im Hinblick auf die höchstpersönliche Natur dieses Aspektes - gerade in Fragen der Sexualität angedeihen und sich dabei von ihren religiösen Vorstellungen leiten zu lassen. Indes ist auch in diesem Bereich nicht etwa ein gleichsam natürliches ausschließliches Erziehungsrecht der Eltern anzuerkennen. Die Relevanz der Sexualität und der sexuellen Aufklärung sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft begründen ein berechtigtes Interesse an einer die elterliche Erziehung ergänzenden Behandlung des Themas im schulischen Unterricht.

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Die Einsicht, dass Sexualität ein prägender Faktor der Persönlichkeit ist, entspricht gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis. Allerdings ist die menschliche Sexualität auf vielfältige Weise kulturell überformt und in ihren Erscheinungsformen wie ihrer Wahrnehmung von kulturspezifischen Einstellungen mitgeprägt. Doch ändert dies nichts daran, dass die Entfaltung der Sexualität als rein biologischer Vorgang den jungen Menschen im Schulkinderalter mit vielfältigen Phänomenen, Fragestellungen und Wünschen konfrontiert. Verstärkt wird dies noch durch die teils übersteigerte Behandlung in manchen Medien, auch solchen, die gerade Kinder als Zielgruppe reklamieren. Überdies wird der heranwachsende Mensch (verstärkt) zum Objekt sexueller Wünsche und Vorstellungen Dritter, was seinerseits mit spezifischen Komplikationen und unter Umständen auch Gefährdungen verbunden sein kann. Aus diesen hier nur skizzierten Gründen ergibt sich die über den familiären Binnenraum hinausweisende Relevanz der einschlägigen Fragestellungen.  Eine verantwortungsbewusste und an der Integration des Kindes sowie seiner Heranbildung zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft orientierte (staatliche) Schulerziehung darf nicht übersehen, dass - in einer Formulierung des Bundesverfassungsgerichts - die "Kenntnis der menschlichen Sexualität (…) als Voraussetzung für ein verantwortungsbewusstes Verhalten sich selbst, dem Partner der Familie und der Gesellschaft gegenüber angesehen werden (kann)" (BVerfG Beschl. v. 21.12.1977 […]). So ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, dass obligatorischer Sexualkundeunterricht durch den Erziehungsauftrag des Staates legitimiert wird, obwohl der seinem Wesen nach der Intim- und Privatsphäre zuzuordnende Bereich der Sexualität eine größere Affinität zum elterlichen Bereich als zum schulischen Bereich besitzt […]. Jedenfalls die ohne weitere Wertungen vorgenommene und dargestellte Vermittlung biologischer und anderer Fakten aus dem sexuellen Bereich im Rahmen des jeweiligen Unterrichtsstoffs ist, wie das Bundesverfassungsgericht es ausgedrückt hat, "etwas Selbstverständliches und Normales (…) und geeignet zu verhindern, dass das Informationsbedürfnis des Kindes in unkontrollierbare Bahnen gelenkt und auf unsachliche Weise befriedigt wird" […]. Auch wenn man erkennt, dass eine strikte Trennung zwischen reiner Faktenvermittlung und ergänzender Wertung bei diesem komplexen Thema praktisch kaum möglich ist […], ändert das nichts an dieser Bewertung.  Im Übrigen muss die unter Umständen problematische Trennung zwischen der Vermittlung bloßer Tatsachen und wertender Einstellung zum Thema Sexualität hier nicht vertieft werden. Die Antragstellerinnen wenden sich schon gegen die Vermittlung des reinen Wissensstoffes und behaupten nicht, dass die vorstehend genannten  allgemeinen Grenzen in der von der Antragsgegnerin verantworteten Unterrichtspraxis nicht eingehalten würden. Insofern geht die Kammer davon aus, dass der Unterricht über sexuelle Fragen unter Beachtung des natürlichen Schamgefühls der Kinder, ohne Indoktrinierung und insgesamt mit Zurückhaltung und Toleranz erteilt wird. Im Hinblick auf das bloße Erziehungsrecht der Eltern ist deshalb nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für eine Befreiung vom Sexualkundeunterricht kein Raum […].

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Für das von der Antragstellerin zu 1) ausschließlich religiös-weltanschaulich begründete Begehren gilt nichts anderes. Der staatliche Erziehungsauftrag setzt sich zur Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Fall auch gegen das von der Antragstellerin zu 1) unter dem speziellen Gesichtspunkt ihrer Religionsfreiheit […] verstandene Erziehungsrecht durch.

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Auszugehen ist dabei von der Einsicht, dass der Tatsachenstoff im Fach Sexualkunde für sich genommen ohne spezifischen religiösen oder weltanschaulichen Gehalt ist. Mit der Aufnahme dieses Bereiches in den obligatorischen schulischen Wissensstoff und Erziehungskanon verletzt der Staat somit nicht die ihm generell obliegende Verpflichtung zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität. Dies gilt auch, wenn man Art. 4 Abs. 1, 2 GG eine Verpflichtung des Staates im positiven Sinn entnimmt, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern […]. Denn auch ohne die begehrte Befreiung von der Teilnahme am Sexualkundeunterricht verwehrt es die Antragsgegnerin der Antragstellerin zu 1) nicht, die Antragstellerinnen zu 2) und 3) in ihrem religiösen Verständnis zu erziehen. Das Beharren auf der Teilnahme am Unterricht und damit der ungeschmälerten Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht konfrontiert die Antragstellerin zu 1) nicht etwa mit anders gerichteten religiös-weltanschaulichen Erziehungsinhalten. Es mutet ihr lediglich zu, im Interesse der Vermittlung von Wissensstoff partielle Abstriche von einer absolut gesetzten Weltanschauung hinzunehmen.

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Dies wiegt nach Auffassung des Gerichts rein rechtstatsächlich von vornherein schon deshalb nicht sonderlich schwer, weil derartige Zugeständnisse auch im normalen Lebensalltag, d.h. außerhalb des eigentlichen Schulunterrichts, in vielfältiger Form zu machen sind. Die Antragstellerinnen leben ja nicht in gleichsam inselhafter Isolation in einer Umwelt, die uneingeschränkt den Regelungen eines Islam in ihrem, die freie Entfaltung namentlich von Frauen weithin negierenden Verständnis unterläge. Das Leben in einer westlichen Großstadt bringt innerhalb und außerhalb der Schule zahlreiche und unterschiedliche Situationen mit sich, in denen die Antragstellerinnen Abstriche von ihrem weltanschaulichen Verständnis hinzunehmen haben werden.

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Aber das Gericht hält die von der Antragstellerin zu 1) vertretene Ausgestaltung ihres Erziehungsrechts auch in rechtlicher Hinsicht nicht für uneingeschränkt schutzwürdig.

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Bei dieser Bewertung verkennt das Gericht keineswegs, dass es der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität dem Staat - und damit auch dem staatliche Gewalt ausübenden Gericht - verbietet, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten […]. Es geht hier indes nicht um eine wertende Beurteilung des eigentlichen religiös-weltanschaulichen Gehaltes der von der Antragstellerin vertretenen Einstellung, sondern darum, die verfassungsimmanenten Grenzen des von der Antragstellerin zu 1) unter weltanschaulich-religiösen Prämissen in Anspruch genommenen Erziehungsrechts kenntlich zu machen.

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Die Rechtsordnung des Grundgesetzes ist zwar in religiös-weltanschaulicher Hinsicht neutral. Dies darf jedoch nicht mit Wertneutralität verwechselt werden. Das Grundgesetz ist keine wertneutrale Ordnung. Mit den Grundrechten hat es eine Wertordnung errichtet, in deren Mittelpunkt die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltende Persönlichkeit mit ihrer Würde steht […]. Das schlägt sich auch im elterlichen Erziehungsrecht nieder. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Elternrecht seinem Wesen nach durch die Verantwortung gegenüber dem zu erziehenden Kind geprägt. Dieses besitzt eigene Menschenwürde und das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit im Sinne der Artikel 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG […]. Der sich hieraus ergebenden "Elternverantwortung" […] wird eine Erziehung nicht gerecht, die unter Berufung auf religiöse Dogmen dem Kind bereits bloßes Wissen vorenthalten will. Das von der Antragstellerin zu 1) im Ergebnis reklamierte Erziehungsrecht zur Unmündigkeit wird die Chance der Antragstellerinnen zu 2) und 3), sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht […], in nicht hinnehmbarer Weise erschweren und gefährden. Besonders deutlich wird dies daran, dass es, wie die Antragstellerin zu 1) meint, genügen solle, wenn ihren Töchtern sexuelle Aufklärung nach der Eheschließung zuteil werde. Jungen Mädchen die Kenntnis über wesentliche Aspekte ihrer Persönlichkeit und ein Grundwissen über biologische Vorgänge bis hin zu den Möglichkeiten der Krankheits- und Empfängnisverhütung bewusst vorzuenthalten, und sie statt dessen der "Aufklärung" durch einen womöglich dem gleichen fundamentalistischen Verständnis folgenden Ehemann auszuliefern, ist, wie nicht weiter ausgeführt werden muss, mit der Wertordnung des Grundgesetzes und seinem Idealbild des frei und eigenverantwortlich handelnden Menschen unvereinbar.

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Es wäre nach Auffassung des beschließenden Gerichtes ein Fehlverständnis der sich aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG ergebenden Verpflichtungen, anzunehmen, dass ein derartiges grundsätzlich zu missbilligendes Erziehungsziel durch Erteilung von Unterrichtsbefreiungen zu unterstützen ist. Es ist der Antragstellerin zu 1) unbenommen, ihr eigenes Leben, insbesondere ihre Rolle als Frau dem von ihr vertretenen Islamverständnis entsprechend auszugestalten. Doch hat sie hinzunehmen, dass in die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, gespeist aus christlichen Traditionen und dem Gedankengut der europäischen Aufklärung, Wertvorstellungen Eingang gefunden haben, denen sie sich auch als Kritikerin dieses Erbes nicht entziehen kann […]. Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit zu religiös weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhang beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt […]. Das Menschenbild des Grundgesetzes steht in dieser Tradition und ist von der Vorstellung des aufgeklärten, toleranten Individuums geprägt. Deshalb ist es ein legitimes Ziel staatlicher Erziehung, Kindern durch Aufklärung auch auf dem Gebiet der Sexualität jedenfalls die Chance zu vermitteln, eine eigenverantwortlich denkende und handelnde Persönlichkeit zu werden. 

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ee) Der von der Antragsgegnerin wahrgenommene staatliche Erziehungsauftrag ist im Übrigen nicht nur im Hinblick auf die Chance der Antragstellerinnen zu 2) und 3), zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten heranzureifen, gegen die abweichenden Vorstellungen der Antragstellerin zu 1) durchzusetzen. Er verdient Unterstützung auch deshalb, weil die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse daran hat, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten "Parallelgesellschaften" entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren […]. Dies erfordert einen ständigen Dialog mit anders denkenden Minderheiten, der im Übrigen für eine offene pluralistische Gesellschaft stets eine Bereicherung bedeutet […]. Dieser schulische Integrationsauftrag gebietet nach Auffassung des Gerichts größte Zurückhaltung gegenüber weltanschaulich religiös begründeten Befreiungsanträgen. Gerade im Schulalltag ist es für Kinder, die nach Herkunft und Erziehung eine andere (offenere) Einstellung zu Körperlichkeit und Sexualität haben, eine wichtige und notwendige Einübung in tolerantes Verhalten, sich praktisch mit abweichenden Haltungen, sei es im eigentlichen Sexualkundeunterricht, sei es etwa auch im Sportunterricht,  auseinanderzusetzen. In dem Maße, in dem aus den in Rede stehenden Gründen Unterrichtsbefreiungen erteilt werden, wächst die Segmentierung unter religiösen Aspekten. Bei den vom Schulunterricht Befreiten wie bei den übrigen Schülern wird das Gefühl einer genuinen Andersartigkeit verstärkt. Die Chancen für eine praktische Einübung in Toleranz und in Verständnis gegenüber den jeweils Anderen werden derart schon im Kindesalter geschmälert. Hier ist es Aufgabe der Lehrkräfte, eine  Auseinandersetzung im Unterricht behutsam und unter Wahrung des Respekts gegenüber abweichenden Einstellungen zu gestalten. Dass eine derartige pädagogische Anleitung im Fall der Antragstellerinnen zu 2) und 3) nicht gewährleistet wäre, behauptet die Antragstellerin zu 1) nicht. Hierfür ist auch nichts ersichtlich. Vielmehr hat das Gericht keinen Grund, die Richtigkeit des Vorbringens der Antragsgegnerin zu bezweifeln, dass die für den Sexualkundeunterricht zuständige Lehrerin insoweit in ganz besonderem Maße qualifiziert ist.

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b) Auch die Antragstellerinnen zu 2) und 3) verfügen über keine Rechtspositionen, die einen wichtigen Grund für die begehrte Befreiung darstellen und ihnen einen Anordnungsanspruch vermitteln würden.

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aa) Im Hinblick auf das ihnen zustehende Recht aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG gehen ihre Rechte nicht weiter als die der Antragstellerin zu 1). Zwar gelten die Antragstellerinnen zu 2) und 3) nach der in § 7 Abs. 3 HmbSG getroffenen Wertung mit Vollendung des 14. Lebensjahres als religionsmündig, doch müssen sie aus den vorstehend erläuterten Gründen eine Beschränkung der von ihnen ganz umfassend reklamierten Grundrechtsausübung hinnehmen. Es mag dahinstehen, wie authentisch ihre in der Antragsschrift geäußerten religiösen Vorstellungen (mittlerweile) sind. Auch wenn die Unterrichtsbefreiung ihrem "wirklichen" Willen entsprechen sollte, müssten sie im gesellschaftlichen Integrationsinteresse zumindest die Chance auf Persönlichkeitsbildung durch Wissensvermittlung auch in diesem Bereich wahren.

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bb) Ein wichtiger Grund ergibt sich auch nicht daraus, dass die Antragstellerinnen zu 2) und 3), wie von der Antragstellerin zu 1) vorgebracht, durch die Teilnahme am Sexualkundeunterricht möglicherweise in eine schwere Gewissensnot geraten […]. Die Kammer verkennt keineswegs, dass für die Antragstellerinnen zu 2) und 3) nicht unerhebliche Probleme dadurch  entstehen können, dass sie sich zwischen der Loyalität zur Mutter, die ihnen rigide weltanschauliche Standards vermittelt - möglicherweise auch aus mittlerweile internalisierten religiös-weltanschaulichen Vorstellungen -, und den Anforderungen, die im Schulunterricht an sie gestellt werden, gleichsam hin- und hergerissen fühlen könnten. Doch ist schon nicht substantiiert vorgetragen, dass insoweit Konflikte kaum erträglichen Schweregrades mit einer Gefährdung des Kindeswohls entstehen würden. Überdies wäre das nach Auffassung der Kammer auch keine unabweisbare und gleichsam naturgesetzliche Folge der Ablehnung einer Befreiung vom Sexualkundeunterricht. Vielmehr hat es die Antragstellerin zu 1) in der Hand, den "weltanschaulich-religiösen Druck" auf die Antragstellerinnen zu 2) und 3) zu mindern. Zum anderen obliegt es, wie ausgeführt, der Schule, mit diesem Konfliktpotential verantwortungsbewusst umzugehen und das Entstehen zugespitzter Konfliktlagen zu vermeiden. Im Ergebnis vermag die Kammer deshalb auch insoweit keinen im Kindeswohl begründeten wichtigen Grund für die begehrte Unterrichtsbefreiung zu erkennen.

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