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Rechtsurteile

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Befreiung vom koedukativen Sportunterricht aus religiösen Gründen

Es reicht nicht aus einer Muslimin, die durch die Teilnahme am koedukativ erteilten Sportunterricht in eine Gewissensnot geraten würde, zu gestatten weitere Kleidung und ihr Kopftuch während des Sportunterrichtes anzubehalten, um ihrer Gewissensnot im Lichte der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG genügend Rechnung zu tragen. Vielmehr muss sie, solange der Sportunterricht nicht für Mädchen und Jungen getrennt erteilt wird, vom Unterricht befreit werden. Dies ist auch im Hinblick auf den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 GG gerechtfertigt, denn es ist nicht dargetan, weshalb der Sportunterricht unbedingt koedukativ erteilt werden müsste und nicht getrennt erteilt werden kann. (Leitsatz der Redaktion) [veraltet – aktuelle Rechtsprechung verneint die Befreiung]


Leitsatz:

Führt ein koedukativ erteilter Sportunterricht für eine 13-jährige Schülerin islamischen Glaubens im Hinblick auf die Bekleidungsvorschriften des Korans zu einem Gewissenskonflikt, so folgt für sie aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und für ihre Eltern aus Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Befreiung vom Sportunterricht, solange dieser nicht nach Geschlechtern getrennt angeboten wird (wie Urteil BVerwG 6 C 8.91, ebenfalls vom 25. August 1993).

 

Zum Sachverhalt:

 

Die 1977 geborene, bei Klageerhebung 13-jährige Klägerin zu 1), sowie ihre Eltern, die Kläger zu 2) und 3), sind türkische Staatsangehörige. Sie begehren aus Gründen ihres islamischen Glaubens die Befreiung der Klägerin zu 1) vom koedukativ erteilten Sportunterricht.

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Die Klägerin zu 1) besucht eine städtische Realschule der Beklagten für Jungen und Mädchen. Ihr Vater beantragte mit Schreiben vom 18. September 1990, sie aus religiösen Gründen vom Sportunterricht zu befreien, weil er als gläubiger Moslem nach dem Koran verpflichtet sei, seine Tochter im Sinne des Keuschheitsgebots zu erziehen. Er sei gegen den Sportunterricht nur in gemischten Klassen, nicht dagegen in einer reinen Mädchengruppe. Diesen Antrag lehnte die Schulleitung mit Bescheid vom 20. September 1990 mit der Begründung ab, dass auf die religiösen Empfindungen der Klägerin zu 1) beim Sportunterricht gebührend Rücksicht genommen werde. Sie dürfe im Trainings- oder Jogginganzug sowie mit Kopftuch am Sportunterricht teilnehmen und sich im Lehrerzimmer umziehen. Zur Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht gehöre auch der Besuch des Sportunterrichts, der wegen seiner sozialintegrativen Funktion und aus gesundheitlichen Gründen für die Klägerin zu 1) sehr bedeutsam sei.

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Nach Zurückweisung des hiergegen eingelegten Widerspruchs haben die Kläger - die schulpflichtige Tochter sowie ihre Eltern - Klage erhoben, weil die Ablehnung der Befreiung der Klägerin zu 1) vom koedukativ erteilten Sportunterricht diese in ihrer durch Art. 4 Abs. 1 GG garantierten Religionsfreiheit und die Kläger zu 2) und 3) in ihren Elternrechten aus Art. 6 Abs. 2 GG verletze. Die Teilnahme am Sportunterricht begründe für die Klägerin zu 1) einen Gewissenskonflikt, der durch die von der Beklagten zugestandene Rücksichtnahme nicht vermieden werde.

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Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer ablehnenden Bescheide verpflichtet, die Klägerin zu 1) vom Sportunterricht an ihrer Schule zu befreien, solange die Beklagte dort einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht nicht anbiete. Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und diese wie folgt begründet: Das Verwaltungsgericht habe dem Grundrecht auf Glaubens- und Religionsfreiheit zu Unrecht Vorrang vor dem schulischen Erziehungsauftrag eingeräumt. Die Entscheidung werde dem Gebot eines möglichst schonenden Ausgleichs des Grundrechtskonflikts nicht gerecht. Die Schule trage im Rahmen ihres Verfassungsauftrags den einzelnen kulturellen Empfindungen und Empfindsamkeiten im gesamten Spektrum der Multikulturalität der heutigen Schülerschaft durchaus Rechnung; so würden nicht nur Befreiungen vom Schwimmunterricht ausgesprochen, sondern beim sonstigen Sportunterricht werde auch verhüllende Bekleidung toleriert, soweit damit kein Sicherheitsrisiko verbunden sei. Die Kläger forderten jedoch nicht nur eine eigene Bekleidung ein, sondern erhöben aus der Bekleidung anderer Forderungen an den Staat. Damit werde nicht mehr nur Toleranz gegenüber den eigenen kulturellen Vorstellungen beansprucht, sondern von der Gesellschaft und insoweit von der Schule als Teil derselben verlangt, sich in ihrer Organisation zu ändern. Bezogen auf das übrige, was Schule ausmache, werde durch entsprechendes Verhalten die Erziehung zu einer Gemeinschaftsgesinnung im Sinne der Bremischen Landesverfassung unmöglich gemacht. Zum Beispiel würden Klassenfahrten, Projektwochen, Sexualerziehung, Sing- und Kreisspiele, Theaterbesuche, Koch- und Nähunterricht aus den unterschiedlichsten religiösen Überzeugungen erschwert, weil sich Teile der Schülerschaft verweigerten. Auch würden Kinder bis zur 10. Jahrgangsstufe überfordert, die multikulturell bedingte Einräumung von Sonderrechten zu verstehen. Dies fördere Ausgrenzung, Aggression und eine generalisierende Form von Ausländerfeindlichkeit und führe zu Erscheinungen, die den Nerv der Schule träfen. Nur durch energisches Bestehen auf Erfüllung der Schulpflicht sei es noch möglich, den Unterricht an Schulen mit hohem Ausländeranteil nicht völlig auseinanderbrechen zu lassen. Ausländer, die in unserer Gesellschaft längere Zeit leben wollten, müssten zu Zugeständnissen bereit sein und sich auf die hier geltenden Wertvorstellungen, Normen und gesellschaftlichen Lebensformen einstellen. Ihre Integration verlange die Respektierung unserer Kultur und der Grundwerte unserer Verfassung sowie auch den Verzicht auf übersteigerte religiöse Verhaltensweisen. Die Konfrontation mit den Bekleidungsformen der westlichen Gesellschaft, die im Sommer bis zu weitgehender Nacktheit führen könne, sei unvermeidbar. Wollten Mädchen sich davor schützen, müssten sie sich vom öffentlichen Leben praktisch vollständig fernhalten. Dies zu unterstützen, widerspreche der emanzipierten, gleichberechtigten Stellung der Frau in unserer Gesellschaft und damit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 GG. Ausländische Schüler islamischen Glaubens müssten sich deshalb auf die für den hiesigen Sportunterricht geltenden Bekleidungsvorschriften einstellen; sie seien zur Teilnahme am Sportunterricht verpflichtet, wenn die eigene Bekleidung den Anforderungen ihrer Religion entspreche. Mit dieser Begründung hat die Beklagte die Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts sowie die Abweisung der Klage beantragt.

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Die Kläger haben die Zurückweisung der Berufung beantragt und zur Begründung ausgeführt: Ihre Glaubens- und Religionsfreiheit erfordere die Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht. Sie respektierten die Kultur der Bundesrepublik Deutschland und ihre Verfassung, bäten aber ihrerseits zu respektieren, dass sie eine Emanzipation der Klägerin zu 1) nach westlichen Wertmaßstäben nicht wünschten.

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Das Berufungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen […]. Hiergegen hat die Beklagte die vom Berufungsgericht zugelassene Revision eingelegt, mit der sie sich gegen einen Anspruch der Klägerin zu 1) auf Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht wendet. Zur Begründung trägt sie vor: Zwar sei die Schule verpflichtet, die kulturellen Traditionen und religiösen Überzeugungen ausländischer Kinder und Jugendlicher zu respektieren; sie seien jedoch stets mit dem Ziel einer Erziehung in der Wertordnung des Grundgesetzes und der jeweiligen Landesverfassung zu fördern. Die Kläger zu 2) und 3) räumten selbst ein, dass sie in der islamischen Tradition nicht wollten, dass sich ihre Tochter im Sinne westlicher Vorstellungen emanzipiere. Eine solche Position dürfe die Schule nicht hinnehmen, weil die vollständige Gleichberechtigung der Frau mit dem Mann ein fundamentales Prinzip westlicher, aufgeklärter Gesellschaften sei. Zwar toleriere die Schulverwaltung die Weigerung von Mädchen moslemischer Glaubenszugehörigkeit, am Schwimmunterricht teilzunehmen, weil es für diese eine nicht zumutbare psychische Belastung bedeute, wenn sie sich selbst in subjektiv nicht zu verantwortender Weise "der Welt" stellen müssten, nämlich in nasser, die eigenen Körperkonturen betonender Kleidung; diese psychische Belastung sei jedoch nicht mit derjenigen zu vergleichen, die ein moslemisches Mädchen erfahre, wenn es im Sportunterricht auf leichtbekleidete Jungen sehen oder sie im sportlichen Spiel auch einmal berühren müsse. Solche Konfrontationen seien beim koedukativen Sport hinzunehmen zugunsten des Wertes, den die Schule im Rahmen der vom Staat normierten Erziehungsprinzipien grundsätzlich auch im Fach Sport der Koedukation beimesse. Auch der Gesetzgeber, dessen Aufgabe es sei, im Spannungsgefüge mehrerer Grundrechte im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens zumindest dort Abgrenzungen vorzunehmen, wo sie ihm zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte des einzelnen unerlässlich erschienen, habe keine Befreiung vom Unterricht aus religiösen Gründen vorgesehen. Im übrigen sei der Klägerin zu 1) eine zumutbare Alternative angeboten und damit eine grundrechtsgemäße Milderung ihrer Gewissensnot ermöglicht worden, nämlich in Form ihrer Teilnahme am Unterricht in einer von ihr gewählten und ihren religiösen Geboten entsprechenden Sportkleidung; dieses Angebot hätte den Kern des Konflikts der Klägerin zu 1) zu lösen vermocht, ohne die durch die staatliche Schulhoheit und das Gebot des weltanschaulich-religiösen Pluralismus in der Schule bestehenden Schranken der Gewissensfreiheit der Klägerin zu 1) zu überschreiten.

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Die Beklagte beantragt,

das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. April 1991 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen, soweit es der Klage stattgegeben hat, und des Urteils des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 24. März 1992 aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.

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Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie treten der Revision entgegen und verteidigen das angefochtene Urteil.

Der Oberbundesanwalt beteiligt sich am Verfahren. Er unterstützt das Vorbringen der Beklagten und trägt ergänzend vor: Bei dem Bemühen um einen möglichst schonenden Ausgleich müsse zugunsten des staatlichen Bildungsauftrags maßgeblich der Verfassungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 GG über die Gleichberechtigung von Männern und Frauen berücksichtigt werden, der im Interesse der wirklichen Emanzipation der Frauen kompensatorische Ausgleichsmaßnahmen zu ihren Gunsten insbesondere im Ausbildungsbereich erfordere; diesem Verfassungsprinzip sei die Schule besonders verpflichtet. Für die Entscheidung über eine Befreiung der Klägerin zu 1) vom Sportunterricht komme es daher auch darauf an, inwieweit der Ausschluss von Mädchen von Unterrichts- und sonstigen schulischen Veranstaltungen der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlung der Geschlechter entgegenstehe. Im übrigen sei zu berücksichtigen, dass an deutschen Schulen Kinder vieler Nationalitäten mit den unterschiedlichsten Religionen und kulturellen Wertvorstellungen, deren Prinzipien in nicht unerheblichem Umfang in Kollision zum allgemeinen Schulbetrieb stünden, unterrichtet würden, was zunehmend zu Abstinenzverhalten bzw. Anträgen auf Freistellung von Klassenfahrten, Veranstaltungen jeglicher Art, von der Sexualerziehung, vom Biologieunterricht usw. führe. Eine einseitige Gewichtung der religiösen Belange der Schüler und ihrer Eltern müsse deshalb zum völligen Zusammenbrechen des auf die gemeinsame Unterrichtung von Kindern verschiedener Nationalitäten und Religionen gerichteten schulischen Erziehungsauftrags führen.

 

Gründe:

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Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat zu Recht das Urteil des Verwaltungsgerichts bestätigt, das die ablehnenden Bescheide der Beklagten aufgehoben und sie verpflichtet hat, die Klägerin zu 1) vom Sportunterricht zu befreien, solange die Beklagte an der von der Klägerin zu 1) besuchten Schule einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht nicht anbietet.

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Das Berufungsgericht ist in Auslegung und Anwendung von irrevisiblem Landesrecht davon ausgegangen, dass die Klägerin zu 1) einen Anspruch auf Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht habe; denn das der Beklagten eingeräumte Ermessen für ihre Entscheidung über die Gewährung einer Ausnahme von der Schulpflicht aus wichtigem Grund sei im Falle der Klägerin zu 1) im Hinblick auf die Grundrechtsordnung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit so weit reduziert, dass eine Befreiung habe erteilt werden müssen. Der sich aus Art. 7 Abs. 1 GG, Art. 28, 30 BremLV ableitende Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates müsse hier hinter das Recht der religionsmündigen Klägerin zu 1) auf Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 33 BremLV, und gleichermaßen hinter das Erziehungsrecht ihrer Eltern, Art. 6 Abs. 2 GG, zurücktreten. Diese Auffassung des Berufungsgerichts lässt eine Verletzung von Bundesrecht nicht erkennen. Dazu ist im einzelnen auszuführen:

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Nach Art. 7 Abs. 1 GG steht von Verfassung wegen "das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates" und somit in seiner Verantwortung. Dies entspricht der herausragenden Bedeutung des Schul- und Bildungswesens für die Gesellschaft sowie insbesondere für die Verwirklichung der vom Grundgesetz allen Bürgern gleichermaßen eingeräumten Grundrechte, hier vor allem Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG; die dem Staat vorbehaltene Aufsicht über das gesamte Schulwesen gibt ihm die Möglichkeit, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Dabei umfasst die in Art. 7 Abs. 1 GG statuierte staatliche Schulaufsicht die Befugnis zur Planung und Organisation des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Damit der Staat seinen Bildungs- und Erziehungsauftrag - auch unabhängig von den Vorstellungen der betroffenen Eltern - wirksam und umfassend wahrnehmen kann, darf er eine allgemeine Schulpflicht einführen und die Möglichkeit einer Befreiung auf besonders begründete Ausnahmefälle beschränken […].

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Zu dem staatlichen Gestaltungsbereich gehört nicht nur die organisatorische Gliederung der Schule, sondern auch die inhaltliche Festlegung der Ausbildungsgänge und der Unterrichtsziele; der Staat kann daher in der Schule grundsätzlich unabhängig von den Vorstellungen und Wünschen der Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen, der Auftrag der Schule zur Bildung und Erziehung der Kinder ist dem Elternrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet […]. Aus diesem Grund ist der Staat beispielsweise befugt, auf der Grundlage einer entsprechenden Entscheidung des Gesetzgebers ohne Zustimmung der betroffenen Eltern Sexualerziehung in der Schule durchzuführen; diese muss dann allerdings für die verschiedenen Wertvorstellungen auf diesem Gebiet offen sein und allgemein Rücksicht nehmen auf das natürliche Erziehungsrecht der Eltern und auf deren religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, soweit diese für das Gebiet der Sexualität von Bedeutung sind […].

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Das Berufungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die staatliche Befugnis, die Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele festzulegen, auch für den Sportunterricht gilt; dem Staat steht es daher frei, als Inhalt und Ziel des Sportunterrichts nicht allein die Förderung der Gesundheit der Schüler sowie die Entwicklung von sportlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten, sondern zusätzlich z.B. die Einübung sozialen Verhaltens anzustreben und derart den Sportunterricht inhaltlich anzureichern und aufzuwerten. Derartige Bildungs- und Erziehungsziele enthält beispielhaft das sog. Zweite Aktionsprogramm für den Schulsport, das auf übereinstimmenden Beschlüssen der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder, des Deutschen Sportbundes und der kommunalen Spitzenverbände beruht und am 17. April 1985 der Öffentlichkeit übergeben wurde ("Zweites Aktionsprogramm für den Schulsport", Sammlung der Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultusminister, Nr. 80.1). Danach soll der Schulsport als Handlungsraum, der Spontaneität ebenso erfordere wie planerisches Denken, Durchsetzungsvermögen wie Sensibilität, Leistungsstärke des einzelnen wie Solidarität mit Schwächeren, dazu dienen, Probleme im Sozialverhalten zu verringern und jene Spannungen positiv wirksam werden zu lassen, die aus unterschiedlichen Begabungen, Neigungen und Temperamenten resultieren […]; in diesem Rahmen seien die kulturelle Identität und die unterschiedliche Sozialisation von Kindern ausländischer Herkunft nachdrücklich zu beachten […]. Unter inhaltlichen und organisatorischen Aspekten sei bei dem im Rahmen der Schulpflicht erteilten Sportunterricht u.a. insbesondere zu berücksichtigen, dass "koedukativer Unterricht möglich (ist), wenn er pädagogisch, sportfachlich und schulorganisatorisch vertretbar ist" […]. Wie der zweite Halbsatz erkennen lässt, wird ein koedukativer Sportunterricht also nicht voraussetzungslos für möglich oder gar empfehlenswert gehalten. Die genannten Vorgaben hat z.B. das Land Berlin durch Rundschreiben zur Organisation des Sportunterrichts vom 4. Juli 1986 […] mit der Maßgabe umgesetzt, dass koedukativer Unterricht nur dann möglich sei, wenn er pädagogisch und sportfachlich vertretbar sei; das sei denkbar, wenn das Bewegungsverhalten, die allgemeine Entwicklung und die Leistungsfähigkeit in der Übungsgruppe weitgehend übereinstimmten; diese Ausgangssituation sei im Klassenverband in der Regel nicht gegeben. Bei der Organisation des Sportunterrichts müsse die unterschiedliche Entwicklung von Jungen und Mädchen berücksichtigt werden; dementsprechend sei der Sportunterricht in der Regel möglichst ab Klasse 5, in jedem Falle ab Klasse 7 für Jungen und Mädchen getrennt zu erteilen; dazu seien entsprechende Übungsgruppen aus Parallelklassen zu bilden. Soweit das Berufungsgericht hinsichtlich der Situation im Land Bremen auf Ausführungen des Senators für Bildung […] verwiesen hat, wonach der Sportunterricht über die Vermittlung körperlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus dazu beitragen soll, Selbstkompetenz, Sachkompetenz und Sozialkompetenz zu entwickeln, sind diese Ausführungen allerdings hinsichtlich der speziell mit einem koedukativen Sportunterricht verfolgten erzieherischen Ziele unergiebig.

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Bei der Wahrnehmung des mit Verfassungsrang ausgestatteten Bildungs- und Erziehungsauftrags sowie speziell bei der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht zu diesem Zweck muss der Staat die - gleichrangigen - Grundrechte von Eltern und Schülern beachten; dies sind vor allem Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind, sowie Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, der die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses schützt und die ungestörte Religionsausübung gewährleistet. Der hohe Rang der Religionsfreiheit im Rahmen der Organisation von Bildung und Erziehung seitens des Staates aufgrund seiner Verantwortung für das gesamte Schulwesen kommt außerdem zum Ausdruck in der detaillierten Regelung des Religionsunterrichts im Rahmen der staatlichen Schule, Art. 7 Abs. 2 und 3 GG, sowie in der Privatschulgarantie unter besonderer Hervorhebung der privaten Bekenntnisschulen und ihrer Privilegierung hinsichtlich der Zulassung privater Volksschulen, Art. 7 Abs. 4 i.V.m. Abs. 5 GG […].

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Die Klägerin zu 1) hat sich zur Begründung ihres geltend gemachten Anspruchs auf vollständige Befreiung vom koedukativen Sportunterricht auf ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, berufen; entsprechend haben ihre Eltern, gestützt auf ihr Erziehungsrecht, Art. 6 Abs. 2 GG, argumentiert. Insoweit hat das Berufungsgericht zutreffend angenommen, dass auch Anhänger des Islam sich auf dieses Grundrecht berufen können, dass der Schutz der aus dem Koran gewonnenen Überzeugung nicht davon abhängt, ob sie im islamischen Raum allgemein oder nur von Strenggläubigen geteilt wird, und dass zu der geschützten Religionsausübung auch Äußerungen der religiösen Überzeugung wie die Beachtung von religiös begründeten Bekleidungsvorschriften gehören, solange sich derartige Äußerungen "im Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker halten" […].

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Ebenfalls zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass denjenigen, der unter Berufung auf sein Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die Befreiung von einer vom Staat durch Gesetz allen auferlegten Pflicht - hier von der allgemeinen Schulpflicht hinsichtlich des Sportunterrichts - begehrt, die Darlegungslast dafür trifft, dass er durch verbindliche Ge- oder Verbote seines Glaubens gehindert ist, der gesetzlichen Pflicht zu genügen, und dass er in einen Gewissenskonflikt gestürzt würde, wenn er entgegen den Ge- oder Verboten seines Glaubens die gesetzliche Pflicht erfüllen müsste. Es hat sich nämlich nicht darauf beschränkt, entsprechende verbale Behauptungen der Klägerin zu 1) entgegenzunehmen, sondern es hat zusätzlich tatsächliche Feststellungen darüber getroffen, dass die Klägerin zu 1) regelmäßig den Gottesdienst in der Moschee besucht, dass sie an religiösen Veranstaltungen der islamischen Mädchengruppe teilnimmt und insbesondere auch die von ihr als für sie verbindlich bezeichneten Bekleidungsvorschriften des Korans, wie sie sie versteht, in ihrem täglichen Leben konsequent beachtet und zum Beispiel in der Öffentlichkeit sowie auch im Schulunterricht ein Kopftuch sowie weite Kleider trägt. In diesem Zusammenhang hat es u.a. die Sure 24, Verse 30 und 31, des Korans angeführt, auf die sich die Klägerin zu 1) berufen hat. Danach sollen gläubige Frauen ihre Blicke niederschlagen, ihre Scham hüten und ihre Reize nicht zur Schau tragen, es sei denn, was außen ist, und sie sollen ihren Schleier über ihren Busen schlagen und ihre Reize nur ihren Ehegatten, Vätern, Brüdern, Söhnen und anderen nahen männlichen Verwandten sowie Frauen und auch Kindern, welche die Blöße der Frau nicht beachten, zeigen. Auf diese Weise hat das Berufungsgericht ausreichend sichergestellt, dass nicht schon die bloße - nicht ernsthafte, möglicherweise aus anderen Gründen vorgeschobene - Berufung auf behauptete Glaubensinhalte und Glaubensgebote, sondern erst die konkrete, substantiierte und objektiv nachvollziehbare Darlegung eines Gewissenskonflikts als Konsequenz aus dem Zwang, der eigenen Glaubensüberzeugung zuwiderzuhandeln, geeignet ist, einen möglichen Anspruch auf Befreiung von einer konkret entgegenstehenden, grundsätzlich für alle geltenden Pflicht unter der Voraussetzung zu begründen, dass der Zwang zur Befolgung dieser Pflicht die Glaubensfreiheit verletzen würde.

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Dem Grundrecht der Klägerin zu 1) auf Respektierung ihres Glaubens sowie dem Erziehungsrecht ihrer Eltern, Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 GG, steht zwar der der Beklagten obliegende staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag, Art. 7 Abs. 1 GG, kraft dessen sie an der von der Klägerin zu 1) besuchten öffentlichen Schule im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht einen gemeinsamen Sportunterricht für Mädchen und Jungen eingerichtet hat, prinzipiell gleichgeordnet gegenüber. Dieser Konflikt kann bei einer Abwägung aller zu berücksichtigenden Gesichtspunkte aber in der Weise zu einem schonenden Ausgleich […] gebracht werden, dass der Klägerin zu 1) ein Anspruch auf Befreiung vom Sportunterricht (nur) für den Fall zugestanden wird, dass der Sportunterricht von der Beklagten für Mädchen ihres Alters ausschließlich in der Form eines gemeinsamen (koedukativen) Unterrichts für Mädchen und Jungen angeboten wird. Das ergibt sich im einzelnen aus folgenden Erwägungen:

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Der aus Art. 7 Abs. 1 GG folgende Erziehungsauftrag des Staates wird in bezug auf den hier allein interessierenden Sportunterricht dann nicht durch die gebotene Rücksichtnahme auf die Glaubensfreiheit der Klägerin zu 1) in Frage gestellt, wenn der Staat ihrem Anliegen schon mit den ihm zu Gebote stehenden organisatorischen Mitteln in vertretbarer Weise Rechnung tragen kann. Das ist ihm in der Weise möglich, dass er anstelle eines koedukativ erteilten Sportunterrichts, der den von der Klägerin zu 1) dargelegten Glaubenskonflikt zur Folge hat, einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht anbietet. Dadurch wird die Erfüllung des ihm obliegenden Erziehungsauftrags weder insgesamt noch auch nur in bezug auf die Erteilung von Sportunterricht ernsthaft gefährdet. Das hat dann allerdings zur Folge, dass dann, wenn er von dieser organisatorischen Möglichkeit keinen Gebrauch macht, er sich gegenüber dem Verlangen der Klägerin zu 1) nach Befreiung allein vom koedukativ erteilten Sportunterricht nicht auf den Vorrang seines Erziehungsauftrags berufen kann. Deshalb hat im Hinblick darauf, dass die Beklagte an der von der Klägerin zu 1) besuchten Schule einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht jedenfalls für Schülerinnen und Schüler ab der Altersstufe der (13- jährigen) Klägerin zu 1) einführen könnte, bei Abwägung aller Gesichtspunkte mit dem Ziel der Herbeiführung eines schonenden Ausgleichs die Glaubensfreiheit der Klägerin zu 1) den Vorrang.

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Allerdings hat sich die Beklagte für ihre Auffassung, eine Befreiung der Klägerin zu 1) vom koedukativen Sportunterricht sei mit ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag nicht zu vereinbaren, nicht auf die mit der Einrichtung eines nach Geschlechtern getrennten Sportunterrichts verbundenen organisatorischen Schwierigkeiten berufen. Sie hat vielmehr hervorgehoben, dass sie mit dem für Mädchen und Jungen gemeinsamen Sportunterricht gewichtige erzieherische Ziele verfolge. Insoweit hat sie indessen nicht darzulegen vermocht, dass und warum diese Ziele angesichts einer Vielzahl von anderen Fächern gerade einen gemeinsamen Sportunterricht, und zwar auch noch für Schülerinnen und Schüler der Altersstufe der Klägerin zu 1), erfordern. […]

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Ein Anspruch der Klägerin zu 1) auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht wäre nach alledem nur dann nicht gegeben, wenn ihr Glaubenskonflikt, dessentwegen sie ihre Befreiung begehrt, mit den von der Beklagten angebotenen Maßnahmen vermieden werden könnte. Dass dies nicht der Fall ist, hat das Berufungsgericht ohne die Verletzung von Bundesrecht angenommen. So hat es mit Recht darauf hingewiesen, dass die Zugeständnisse der Beklagten hinsichtlich der Sportbekleidung, des Umziehens und der Befreiung von einzelnen Übungen und Spielen nur einen Teilaspekt des Gewissenskonflikts der Klägerin zu 1) betreffen, weil sie es als mit ihrer Glaubenshaltung, nämlich in bezug auf das Keuschheitsgebot des Korans, unvereinbar erlebe, ihren nur knapp bekleideten Mitschülern bei ihren Übungen zusehen zu müssen. Ebenso zutreffend hat das Berufungsgericht hervorgehoben, dass der Umstand, dass die Klägerin zu 1) auch außerhalb des Sportunterrichts, zumal im Sommer, mit Menschen zusammentreffe, deren Bekleidung ihren Glaubensmaßstäben zuwiderlaufe, sie nicht hindere, der Beklagten gegenüber ihren Gewissenskonflikt geltend zu machen; denn zum einen ändere dieser Umstand nichts an ihrem Glaubenskonflikt, und zum anderen könne sie sich in ihrem Freizeitverhalten weitgehend ihrer Glaubenshaltung entsprechend einrichten. Im Ergebnis hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen es als nachvollziehbar bezeichnet, dass die Klägerin zu 1) ihre erzwungene Teilnahme am koedukativen Sportunterricht wegen ihrer religiösen Überzeugung als ernst zu nehmenden und deshalb unzumutbaren Konflikt erlebe. Wenn es daraufhin zum Schutz der Klägerin zu 1) in ihrer Glaubensfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, sowie zum Schutz ihrer Eltern in ihrem Erziehungsrecht, Art. 6 Abs. 2 GG, einen Anspruch der Klägerin zu 1) auf Befreiung (allein) vom koedukativen Sportunterricht angenommen hat, ist dies aus Gründen des Bundesrechts nicht zu beanstanden.

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Die Befürchtungen der Beklagten sowie des Oberbundesanwalts, dass die Befreiung der Klägerin zu 1) vom koedukativen Sportunterricht aus Gründen ihres islamischen Glaubens zu unangemessenen Weiterungen auch hinsichtlich anderer Unterrichtsfächer sowie sonstiger Schulveranstaltungen führen könnte, sind angesichts der gegebenen Rechtslage nicht begründet. Wie eingangs ausgeführt wurde, unterliegt der mit Verfassungsrang, Art. 7 Abs. 1 GG, ausgestattete staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag grundsätzlich keinen Einschränkungen. Ist im Einzelfall wegen eines konkret entgegenstehenden Grundrechts ausnahmsweise eine Einschränkung geboten, wie dies hier hinsichtlich eines für Jungen und Mädchen im Alter der Klägerin zu 1) koedukativ erteilten Sportunterrichts der Fall ist, so lässt dies nicht auf Weiterungen schließen. Da Ausnahmen auf das für den Grundrechtsschutz unerlässliche Maß beschränkt bleiben müssen, sind andere Einschränkungen des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags in Form einer Befreiung einzelner Schüler vom Unterricht in aller Regel auch nicht aus Gründen der Glaubensfreiheit zu rechtfertigen. […]

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Da nach alledem das Berufungsgericht zu Recht einen Anspruch der Klägerin zu 1) sowie auch ihrer Eltern aufgrund ihres Erziehungsrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG auf Befreiung der Klägerin zu 1) vom koedukativ erteilten Sportunterricht angenommen hat, ist die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

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