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Rechtsurteile

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Zulässigkeit eines Versammlungsverbots wegen befürchteter Äußerungsdelikten bei einer geplanten pro-palästinensischen Demonstration

Ein Versammlungsverbot ist nicht von vorneherein schon dann gerechtfertigt, wenn die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in erster Linie darin besteht, dass durch die Versammlungsteilnehmer Äußerungsdelikte begangen werden oder antisemitische Parolen einen unfriedlichen Verlauf der Versammlung provozieren könnten (hier u.a.: „From the river to the sea,…“, „Israel Kindermörder“). In diesem Fall ist als milderes Mittel der Erlass einer Auflage zu prüfen, die das Rufen und Zeigen dieser Parolen untersagt, sofern der Veranstalter zur Unterbindung der Äußerungen willens ist. (Rn.10)


 

Verfahrensgang

vorgehend VG Karlsruhe, 20. Oktober 2023, 1 K 4222/23, Beschluss

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 20. Oktober 2023 - 1 K 4222/23 – geändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 19. Oktober 2023 wird wiederhergestellt mit der Maßgabe, dass auf der für den 21. Oktober 2023, auf dem Marktplatz in Mannheim von der Antragstellerin angemeldeten Versammlung keine Parolen wie

- „From the river to the sea,…“

- „Israel Kindermörder“

- „Juden Kindermörder“

- „Israel bringt Kinder um“

gerufen oder gezeigt werden dürfen. Die Versammlungsleiterin hat Personen, die gröblich gegen diese Auflage verstoßen, zum Verlassen der Versammlung aufzufordern.

Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen tragen die Antragstellerin und die Antragsgegnerin jeweils zur Hälfte.

Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

 

Gründe

1

1. Der Senat entscheidet über die am heutigen Tag um ca. 11.30 Uhr eingegangene Beschwerde der Antragstellerin zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO, da die Versammlung, die die Antragstellerin veranstalten möchte, heute um 18:00 Uhr beginnen soll und sie das mit der Beschwerde verfolgte Ziel nur bei einer vorherigen Entscheidung des Senats vollständig erreichen könnte. Die Antragstellerin hat ihre Beschwerde bereits in der Beschwerdeschrift begründet. Die Antragsgegnerin hatte Gelegenheit, sich zu der Beschwerdeschrift zu äußern; sie hat davon Gebrauch gemacht.

2

2. Die Beschwerde ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

3

Die Antragstellerin verfolgt ihr Begehren weiter, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 19.10.2023 wiederherzustellen. Mit dieser Verfügung hat die Antragsgegnerin die für heute zwischen 18.00 und 20.00 Uhr auf dem Marktplatz in Mannheim von der Antragstellerin angemeldete Versammlung zum Motto „Gegen Krieg, Besatzung, Gewalt und Unterdrückung in Palästina und Israel“ verboten.

4

Die fristgerecht dargelegten Gründe, auf die die Prüfung des Senats grundsätzlich beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), geben dem Senat Anlass, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 20.10.2023 gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 19.10.2023 in Bezug auf die von ihr angemeldete Versammlung unter Auflagen wiederherzustellen und dem Suspensivinteresse der Antragstellerin grundsätzlich den Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung einzuräumen.

5

Nach § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung oder einen Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Dabei umfasst der Begriff der öffentlichen Sicherheit den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 - 1 BvR 233, 341/81 -, BVerfGE 69, 315). Die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm sind unter Beachtung der durch Art. 8 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit auszulegen (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.05.2020 - 1 S 1541/20 -, juris). Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig. Solche Eingriffe kommen nur dann in Betracht, wenn die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist, d.h. wenn der von der Versammlungsbehörde anzustellenden Gefahrenprognose konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte zu Grunde liegen, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben; bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für sich allein nicht aus (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 -, juris). Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 -, juris Rn. 17). Dabei liegt nach den allgemeinen Regeln des Verwaltungsrechts, die auf die Konzeption der Grundrechte als Abwehrrechte abgestimmt sind, die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von freiheitseinschränkenden Maßnahmen bei der Behörde (BVerfG, Beschluss vom 04.09.2009 - 1 BvR 2147/09 -, juris Rn. 13; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.06.2021 - 1 S 1849/21 -, juris).

6

Von diesen Maßstäben geht auch das Verwaltungsgericht zutreffend aus. Der Senat teilt jedoch nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass vorliegend so gravierende Gefahren für die öffentliche Sicherheit bestehen, dass ein Versammlungsverbot nach § 15 Abs. 1 VersG als ultima ratio ohne den Einsatz milderer Mittel gerechtfertigt wäre.

7

Der Senat verkennt nicht, dass aufgrund der durch das Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung verursachten Eskalation des Nahostkonflikts derzeit bei pro-palästinensischen Demonstrationen ein sehr hohes Mobilisierungs- und Emotionalisierungspotential besteht und jederzeit mit einer dynamischen Veränderung der Stimmungslage der Teilnehmer zu rechnen ist (vgl. Gefährdungsbewertung des Polizeipräsidiums Mannheim vom 18.10.2023). Gleichwohl führt auch die genannte Gefährdungsbewertung aus, dass konkrete gefährdungsrelevante Erkenntnisse aktuell nicht vorliegen.

8

Auch im Übrigen sind aufgrund der Gefahrenprognose im angefochtenen Bescheid, der von der Antragsgegnerin vorgelegten Unterlagen und des gesamten Akteninhalts keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass von der Versammlung Gefahren für Leib, Leben oder bedeutende Sachwerte ausgehen. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass eine friedliche Versammlung beabsichtigt ist und insoweit keine strafrechtlichen und sonstigen Störungen der öffentlichen Sicherheit provoziert werden sollen. Zu diesem Zweck hat sie den Einsatz von ca. 40 Ordnern geplant. Parolen sollen nicht gerufen werden. Die Demonstrationsregeln sollen zu Beginn der Versammlung bekannt gemacht werden. Personen, die radikal-islamischen Gruppierungen nahestehen, seien nicht erwünscht und sollen von der Versammlung ausgeschlossen werden. Hierzu hat die Antragstellerin - wenn auch spät - Demonstrationsregeln veröffentlicht und am 12.10.2023 ein entsprechendes Statement im Internet abgegeben. Es trifft zu, dass sie bei den Kooperationsgesprächen teilweise sehr ausweichend war und von einer Bewerbung der Versammlung im Vorfeld trotz einer entsprechenden Bitte der Versammlungsbehörde nicht abgesehen hat; es fällt auch auf, dass die Versammlung unter einem anderen Motto beworben wird als sie angemeldet wurde. Weiter trifft es zu, dass die Anzahl der Teilnehmer möglicherweise weit über die angemeldete Zahl von 300 Teilnehmern hinausgeht. Gleichwohl können aus diesen Umständen keine hinreichend konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte entnommen werden, dass es aus der Versammlung heraus zu einer Gefährdung für hochwertige Rechtsgüter wie Leib und Leben, etwa zu tätlichen Angriffen auf Polizeibeamte, kommen wird. Trotz gewisser Zweifel kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin per se nicht bereit oder in der Lage ist, für die innere Ordnung der Versammlung zu sorgen. Vielmehr handelt es sich um - durchaus nicht von der Hand zu weisende - Befürchtungen und Vermutungen der Antragsgegnerin, die allerdings nicht auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage beruhen.

9

Auch aus den von der Antragsgegnerin angeführten früheren Versammlungen ergeben sich keine hinreichenden Indizien für einen unfriedlichen Verlauf. Die von der Antragsgegnerin angeführten Versammlung vom 15.05.2021, bei der im Anschluss von einzelnen Personen Gegenstände, u.a. Steine, auf Polizisten geworfen worden sind, kann das streitige Versammlungsverbot voraussichtlich nicht rechtfertigen, wie der Verwaltungsgerichtshof bereits mit Beschluss vom 5.6.2021 (1 S 1849/21 - juris) mit eingehender Begründung entschieden hat. Auch der Umstand, dass in den vergangenen Tagen bundesweit zu unfriedlichen pro-palästinensischen Versammlungen und gewalttätigen Protesten gekommen ist, lässt nicht hinreichend zuverlässig den Schluss zu, dass es auch vorliegend zu einer kollektiven Unfriedlichkeit der Versammlung kommen wird. Hierfür ist außer der angespannten und aufgeheizten Stimmungslage in Verbindung mit der zu erwartenden Teilnehmerzahl auch von der Antragsgegnerin nichts vorgetragen worden, zumal inzwischen auch friedliche pro-palästinensische Versammlungen stattgefunden haben. Zudem dürfte der Antragstellerin entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht zugerechnet werden können, dass die Veranstaltung von der Gruppierung Samidoun beworben wird, die das abscheuliche Massaker der Hamas am 7.10.2023 bejubelt hat; andernfalls könnten extremistische oder gewaltbereite Minderheiten jedwede Versammlung für sich instrumentalisieren.

10

Soweit die Begehung von Äußerungsdelikten in Rede steht, kann dem durch die oben genannte Auflage als milderes Mittel Rechnung getragen werden. Ob die oben genannten oder inhaltsgleiche Äußerungen strafbar sind, bedarf vorliegend - zumal bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung - keiner Entscheidung; es spricht zumindest im gegenwärtigen Kontext manches für einen Anfangsverdacht, sei es den der Billigung von Straftaten (§ 140 StGB), sei es den der Volksverhetzung (§ 130 StGB) (vgl. VG Berlin, Beschl. v. 11.10.2023 - 1 L 428/23 - juris). Insoweit könnte möglicherweise auch eine rechtliche Neubewertung einzelner von der bisherigen Rechtsprechung (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 5.6.2021 -1 S 1849/21- juris Rn.12) als nicht rechtswidrig angesehener Äußerungen im aktuellen Kontext geboten sein. Zudem spricht vieles für die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass die Verwendung der oben genannten Parolen in Anbetracht der äußerst angespannten, potentiell auch aggressiven Stimmungslage die Gewaltbereitschaft fördern und die betroffenen Bevölkerungskreise in unzumutbarer Weise einschüchtern kann. Ferner ist zu berücksichtigen, dass eine einmal getätigte Äußerung irreversibel ist und durch ein nachträgliches Einschreiten der Polizei oder nachträgliche Strafanzeigen, wie sie die Antragstellerin vorschlägt, in der Sache nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Mit dem Verwaltungsgericht geht daher auch der Senat davon aus, dass eine Gefährdung der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch die genannten Parolen ernsthaft zu besorgen sein könnte. Darüber hinaus hat die Antragstellerin im Kooperationsgespräch und erneut in ihrer eidesstattlichen Versicherung von heutigen Tage ausdrücklich erklärt, dass auf der angemeldeten Versammlung keine Parolen gerufen werden sollen; sie hat mithin selber auf entsprechende Meinungsäußerungen verzichtet und muss sich hieran festhalten lassen. Bei der vorliegend gebotenen Abwägung räumt der Senat daher - auch unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) - dem öffentlichen Interesse an dem Verbot entsprechender Äußerungen den Vorrang vor den Interessen der Antragstellerin ein.

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[…]

 

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