
Versammlungsverbot nur bei unmittelbarer Gefahr: Bestätigung der Versammlungsfreiheit durch das Oberverwaltungsgericht
Ein Versammlungsverbot kann nur bei konkreter und unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sein. Bloße Vermutungen oder Verdachtsmomente reichen nicht aus, um die verfassungsrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit einzuschränken. (Leitsatz der Redaktion)
| Verfahrensgang vorgehend VG Frankfurt am Main, 20. Oktober 2023, 5 L 3313/23.F, Beschluss
Tenor Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 20. Oktober 2023 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt. |
| Gründe |
1 | Die gemäß §§ 146, 147 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – fristgerecht eingelegte und inhaltliche begründete Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den oben genannten Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main ist zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg. |
2 | Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag des Antragstellers gemäß § 80 Abs. 5 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 20. Oktober 2023 gegen das von der Antragsgegnerin ausgesprochene Verbot der für den 21. Oktober 2023 geplanten Versammlung zum Thema „Frieden und Gerechtigkeit im Nahen Osten“ zu Recht stattgegeben. Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit das Verbot der vom Antragsteller angemeldeten Versammlung nicht rechtfertigen. Auf die insoweit zutreffenden Gründe im Beschluss des Verwaltungsgerichts wird Bezug genommen. |
3 | Das Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin führt zu keiner anderen Beurteilung. |
4 | Nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Hessisches Versammlungsfreiheitsgesetz – HVersFG – kann die zuständige Behörde eine Versammlung unter freiem Himmel verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Maßnahmen erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist, wobei das Verbot voraussetzt, dass Beschränkungen nicht ausreichen. |
5 | Die öffentliche Sicherheit ist gefährdet, wenn eine konkrete Sachlage vorliegt, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge den Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt und daher bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.12.2007 – 1 BvR 2793/04 –, juris Rn. 20; Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2. Auflage 2022 § 15 Rn. 53). Wie das Verwaltungsgericht zu Recht aufzeigt, ist bei der Anwendung des § 14 Abs. 2 HVersFG stets die besondere Bedeutung der verfassungsrechtlich verankerten Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz – GG – und Art. 14 Hessische Verfassung – HV – zu beachten. Denn Beschränkungen sind im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen (BVerfG, Beschluss vom 30.08.2020 – 1 BvQ 94/20 –, juris Rn. 14). |
6 | Ein Verbot von Versammlungen kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 8 GG – wie in § 14 Abs. 2 HVersFG ebenfalls formuliert – nur in Betracht, wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Als Grundlage der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus. Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2010 – 1 BvR 2636/04 –, juris Rn. 17). |
7 | Gemessen daran begründet auch die von der Antragsgegnerin formulierte Beschwerde keine Gefahrenprognose, dass es bei Durchführung der angezeigten Versammlung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit kommen wird, der allein mit einem Verbot der Versammlung nach § 14 Abs. 2 Satz 1 HVersFG wirksam begegnet werden kann. |
8 | Dem Senat ist es durchaus bewusst, dass aus Anlass des terroristischen Überfalls der Hamas auf Israel Versammlungen stattgefunden haben, bei denen es zu Straftaten und Verstößen gegen das Versammlungsrecht gekommen ist. Vorliegend hat die Antragsgegnerin jedoch keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür vorgebracht, dass die streitgegenständliche Versammlung hinsichtlich Anmelder, Teilnehmerkreis und Thema mit jenen hinreichend vergleichbar wäre. |
9 | Die von der Antragsgegnerin vorgetragenen Bedenken gegen den Anmelder der Versammlung sind nicht geeignet eine unmittelbare Gefahr für Rechtsgüter zu begründen. Soweit sie vorträgt, der Antragsteller habe in der Vergangenheit wiederholt Versammlungen durchgeführt, bei welchen israelfeindlichen Redebeiträge gehalten und Feindbilder gegen den israelischen Staat geschürt worden seien, reicht dies für die Annahme einer unmittelbaren Gefahr nicht aus. Hiermit ist nicht aufgezeigt, dass der Antragsteller auch Äußerungen anstrebt oder fördert, die dem Strafrecht unterfallen. Des Weiteren sind die Äußerungen des Vorstandesmitglieds des Antragstellers, Herrn X... nicht geeignet, diesen Schluss zu begründen. Die Äußerungen bewegen sich – wie auch der von der Antragsgegnerin vorgelegte Verfassungsschutzbericht ausführt – an der „Grenze des Sagbaren“ und somit des Erlaubten und reicht damit nicht für die Annahme einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. |
10 | Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass das Thema der Versammlung „Frieden und Gerechtigkeit im Nahen Osten“ lediglich vorgeschoben ist, um unter diesem Deckmantel Straftaten zu begehen. Im Aufruf des Antragstellers wird ausdrücklich darauf Bezug genommen, dass man sich für „eine friedliche, ordentliche und verfassungskonforme Demonstrationskultur“ einsetze. In der Pressemitteilung des Antragstellers werden alle Teilnehmer gebeten (wörtlich) „sich von allen friedenstörenden, gewaltverherrlichen und antisemitischen Plakaten, Rufen/Parolen und Haltungen fernzuhalten und zu distanzieren!!!“ Weiter heißt es: „Wir lehnen jegliche Hassparolen gegen unsere jüdischen Bürgerinnen und Bürger entschieden ab und wollen nur für Frieden und Gerechtigkeit unter Völkern im Nahen Osten sowie für ein friedliches Zusammenleben in unserem Bundesland Hessen eintreten“. Dass dies nicht gänzlich vorgeschobene Ankündigungen sind, zeigt, dass ein Team von Plakatkontrolleuren zusammengestellt werden soll, welches Plakate überprüfen und gegebenenfalls unangemessene Plakate entfernen will. Auch die freiwillig über das erforderliche Maß hinaus angebotene Bereitstellung von 150 Ordnern zeigt, dass der Antragsteller ernsthaft gewillt ist, die Versammlung ohne eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit durchzuführen. |
11 | Sofern die Antragsgegnerin befürchtet, dass sich Teilnehmer aufgrund der aggressiven Grundstimmung zu Straftaten hinreißen lassen könnten, sind Maßnahmen zuvörderst gegen diesen Teilnehmerkreis zu richten. Dies wird auch aus der Regelung des § 14 Abs. 3 Satz 2 HVersFG ersichtlich. Danach ist ein Verbot oder eine Auflösung einer Versammlung nur dann zulässig, wenn Maßnahmen gegen die die Gefahr verursachenden Personen nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen. Die Antragsgegnerin hat nicht dargelegt, dass es der Polizei nicht möglich sein wird, derartige Maßnahmen zu ergreifen. |
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