Verwaltungsgericht Berlin bestätigt Verbot pro-palästinensischer Demonstration wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit
1. Die zuständige Behörde kann die Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel beschränken oder verbieten und die Versammlung nach deren Beginn auflösen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Maßnahme erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. (Rn.7) 2. Eine Untersagung einer Versammlung kommt nur in Betracht, wenn eine unmittelbare, aus erkennbaren Umständen herleitbare Gefahr für mit der Versammlungsfreiheit gleichwertige, elementare Rechtsgüter vorliegt. (Rn.8) 3. Bei der Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen herangezogen werden, soweit diese Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen. (Rn.10)
| Tenor Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt. |
| Gründe |
1 | Der sinngemäße Antrag, |
2 | die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Verbotsbescheid der Polizei Berlin vom 10. Oktober 2023 wiederherzustellen, |
3 | hat keinen Erfolg. |
4 | Der Antrag ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Er ist jedoch unbegründet. |
5 | 1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung im Verbotsbescheid der Polizei Berlin vom 10. Oktober 2023 genügt den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Vorschrift, nach der das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen ist, normiert formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts. Ob die Erwägungen der Behörde auch inhaltlich zutreffen, ist im Rahmen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO unbeachtlich. Die Begründung darf zwar nicht bloß formelhaft, sondern muss einzelfallbezogen sein. Allerdings belegen bei Maßnahmen der Gefahrenabwehr die den Erlass des Bescheides rechtfertigenden Gründe in der Regel zugleich die Dringlichkeit der Vollziehung (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Juni 2009 – OVG 1 S 97.09, juris, Rn. 3). Gemessen daran wird die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Begründung den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO gerecht. Der Antragsgegner hat das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung damit begründet, dass wegen der unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Ausgang eines eventuellen Rechtsstreits nicht abgewartet werden könne. Bei Durchführung der Versammlung seien elementarste Rechtsgüter (voraussichtlich) verletzt oder erheblich gefährdet. Darüber hinaus nimmt der Antragsgegner sinngemäß in zulässiger Weise auf die vorausgehende ausführliche Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles aus der Begründung der Verbotsverfügung Bezug. In ausreichendem Maße hat er damit deutlich gemacht, dass er sich des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst gewesen ist. |
6 | 2. Das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verbotsbescheids der Polizei Berlin vom 10. Oktober 2023 überwiegt das Interesse des Antragstellers, vorerst von der Vollziehung verschont zu bleiben. Denn der Verbotsbescheid erweist sich bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen und allein gebotenen summarischen Prüfung als materiell rechtmäßig. Zudem besteht ein besonderes Vollziehungsinteresse. |
7 | Rechtsgrundlage des Versammlungsverbots ist § 14 Abs. 1 VersFG BE. Danach kann die zuständige Behörde die Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel beschränken oder verbieten und die Versammlung nach deren Beginn auflösen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Maßnahme erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Die Vorschrift, die § 15 Abs. 1 VersammlG ersichtlich nachgebildet ist, setzt die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die sich namentlich aus der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben (siehe hierzu Gesetzesbegründung des Abgeordnetenhauses von Berlin, Drs. 18/2764, S. 39 f.), in Landesrecht um. Deshalb kann zur Auslegung des § 14 Abs. 1 VersFG BE auf die Literatur und Rechtsprechung zu § 15 Abs. 1 VersammlG zurückgegriffen werden. Der Antragsgegner hat die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 VersFG BE hier zu Recht bejaht. |
8 | Eine Untersagung einer Versammlung kommt nur in Betracht, wenn eine unmittelbare, aus erkennbaren Umständen herleitbare Gefahr für mit der Versammlungsfreiheit gleichwertige, elementare Rechtsgüter vorliegt. Für das Vorliegen der „unmittelbaren“ Gefährdung bedarf es einer konkreten Gefahrenprognose. Bloße Belästigungen Dritter, die sich aus der Gruppenbezogenheit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Versammlungszweck nicht vermeiden lassen, reichen hierfür nicht. Sie müssen in der Regel hingenommen werden. Sind unmittelbare Gefährdungen von Rechtsgütern zu befürchten, ist diesen primär durch Auflagen entgegenzuwirken. Die Untersagung einer Versammlung kommt als ultima ratio nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen anders nicht verhindert werden können (BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 – 1 BvR 699/06, juris Rn. 90). Der Begriff der öffentlichen Sicherheit in § 14 Abs. 1 VersFG BE umfasst dabei den Schutz zentraler Rechtsgüter wie das Grundrecht Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Es steht im Grundsatz außer Zweifel, dass zu dessen Schutz Eingriffe in die Versammlungsfreiheit gerechtfertigt sein können (siehe nur Beschluss der Kammer vom 27. August 2021 – VG 1 L 424/21, juris Rn. 7). Daneben umfasst der Begriff der öffentlichen Sicherheit den Schutz der Unversehrtheit der Rechtsordnung jedenfalls dann, wenn deren strafbare Verletzung droht. Soweit sich der Verbotsbescheid dabei – wie hier – auf den Inhalt von Aussagen bezieht, ist er auch am Maßstab des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG zu beurteilen. Die Äußerung verliert den Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG nicht allein wegen ihres Inhalts, es sei denn, der Inhalt ist strafbar. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Inhalte einer auf einer Versammlung geäußerten Meinung richten sich nicht nach Art. 8 Abs. 2 GG, sondern nach Art. 5 Abs. 2 GG. Die Grenze verläuft nach letztgenannter Vorschrift dort, wo Meinungsäußerungen auf verfassungsgemäße Weise rechtlich verboten, insbesondere unter Strafe gestellt sind (vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 22. März 2006 – 11 K 632/06, juris Rn. 4). |
9 | Ausgehend von diesem Maßstab begegnet die Prognose des Antragsgegners keinen durchgreifenden Bedenken, bei Durchführung der beiden angemeldeten Versammlungen bestehe eine unmittelbare Gefahr für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, weil – wie in der Vergangenheit bei ähnlichen vom Antragsteller angemeldeten Versammlungen – aus der Versammlung heraus Pyrotechnik gezündet werde und Flaschen und Steine, insbesondere auf Polizeibeamte, geworfen werden (S. 7, 11, 12 des Bescheides). Zutreffend weist der Antragsgegner darauf hin, dass vorliegend mit einer ähnlichen Zusammensetzung der Teilnehmenden zu rechnen sei wie bei vorangegangenen Versammlungen des Antragstellers. Eine nicht unerhebliche Anzahl von – vor allem jüngeren Teilnehmenden – sei dabei als gewaltgeneigt bzw. gewaltbereit einzustufen. |
10 | Ebenso ist die Gefahrenprognose nicht zu beanstanden, soweit der Antragsgegner davon ausgeht, aus den beiden Versammlungen heraus würden Straftaten in Form von Äußerungsdelikten verübt werden (S. 6, 12, 13 des Bescheides). Die Gefahrenprognose nimmt dabei im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf frühere Versammlungen des Antragstellers Bezug, den hinsichtlich des Mottos sowie des Teilnehmerkreises vergleichbaren Versammlungen vom 14. und 15. Mai 2021, 23. April 2022 und 8. April 2023. Anerkannt ist, dass bei der Gefahrenprognose Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen herangezogen werden können, soweit diese Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen (BVerfG, Beschluss vom 21. November 2020 – 1 BvQ 135/20, juris Rn. 11), wovon hier auszugehen ist. Dabei kam es bei den vorgenannten früheren Versammlungen wiederholt zu den Ausrufen „Bombardiert Tel Aviv“, „Juden gleich Kindermörder“ und „Tod den Juden“ bzw. zeigten Versammlungsteilnehmende Transparente mit solchen Aufschriften. Die Kammer teilt die rechtliche Würdigung des Antragsgegners, dass es sich bei dem Ausruf „Bombardiert Tel Aviv“ um eine öffentliche Aufforderung zu Straftaten im Sinne von § 111 StGB, bei dem Zeigen eines Transparents mit der Aufschrift „Juden = Kindermörder“ und „Tod den Juden“ um Volksverhetzung gemäß § 130 StGB handelt (zweifelnd hinsichtlich eines Banners mit der Aufschrift „Kindermörder Israel“: VGH Mannheim, Beschluss vom 5. Juni 2021 – 1 S 1849/21, juris Rn. 15). |
11 | Zutreffend stützt der Antragsgegner sein Verbot weiterhin darauf (S. 12 ff. des Bescheides), dass die beiden Versammlungen des Antragstellers in der Art und Weise ihrer Durchführung geeignet seien, Gewaltbereitschaft zu vermitteln und dadurch einschüchternd zu wirken (§ 14 Abs. 1 iVm § 14 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 VersFG BE) sowie den öffentlichen Frieden zu stören (§ 14 Abs. 1 iVm § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VersFG BE). Die für frühere Versammlungen festgestellte hochgradig israelfeindliche und in den Antisemitismus reichende Stimmung – bis hin zur Negierung des Existenzrechts Israels – ist geeignet, diese tatbestandlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Denn eine lautstarke Propagierung der Vernichtung des Staates Israel und/oder die Aufforderung zur Tötung der Bewohner dieses Staates vermittelt erhebliche Gewaltbereitschaft. Diese Äußerungen sind ihrem Inhalt nach auf Aggression und Rechtsbruch angelegt und wirken für einen Beobachter einschüchternd. Auf die vom Antragsteller in Zweifel gezogene Verfassungsmäßigkeit von § 14 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 VersFG BE kommt es nicht entscheidungserheblich an, weil die Verbotsverfügung nicht allein auf diesen Tatbestand gestützt ist. |
12 | Zu berücksichtigen ist zudem, dass der Antragsgegner den Antragsteller als Aktivisten zugunsten der „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ (PFLP) einstuft (S. 6 des Bescheides). Dem ist der Antragsteller nicht substantiiert entgegengetreten. Die PFLP ist seit Jahren Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes des Bundes, über sie wird im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 (dort S. 303) berichtet, dass sie das Existenzrecht des Staates Israel ablehne und das Ziel eines palästinensischen Staates in den Grenzen des historischen Palästina verfolge. Dazu propagiere die PFLP den bewaffneten Kampf und suche den Schulterschluss u.a. zur Hamas. Zwar sei die PFLP in Deutschland nicht terroristisch aktiv, ihre aktiven Anhänger würden aber israelfeindliche Propaganda verbreiten. |
13 | Die Verbotsverfügung ist auch ermessensfehlerfrei. Mildere Mittel in Gestalt von Auflagen kommen nicht in Betracht, denn der Antragsgegner hat nachvollziehbar unter Bezugnahme auf seine Erfahrungen mit den vorangegangenen Versammlungen dargelegt, dass der Antragsteller nicht in der Lage war, entsprechende Auflagen auch effektiv durchzusetzen. In Anbetracht der von der Versammlung ausgehenden Gefahren erweist sich deren Verbot auch als angemessen. Gleiches gilt für das verfügte Verbot von Ersatzveranstaltungen bis einschließlich 17. Oktober 2023, denn mit einer Beruhigung der Lage in den nächsten Tagen ist nicht zu rechnen. |
14 | Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Versammlung besteht schließlich auch ein besonderes Vollziehungsinteresse. Ohne das sofort vollziehbare Versammlungsverbot käme es zu einer ungehinderten Gefahr für die öffentliche Sicherheit. |
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