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Rechtsurteile

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Rechtswidrigkeit eines politischen Betätigungsverbots für palästinensische Aktivistin – Verwaltungsgericht Berlin hebt Entscheidung des LABO auf

Das Verbot der Teilnahme an einer politischen Veranstaltung sowie die Aufhebung eines Schengen-Visums durch das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) können rechtswidrig sein, wenn die Entscheidung auf unzureichend ermittelten Tatsachen und unzureichenden Gefahrenprognosen beruht. Eine pauschale Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aufgrund der Vergangenheit der betroffenen Person ist unzulässig, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für aktuelle Gefährdungen vorliegen. Die besondere Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel rechtfertigt keine pauschale Einschränkung der Meinungsfreiheit ohne sorgfältige Abwägung der individuellen Umstände.


 

Tenor

Es wird festgestellt, dass der Bescheid des Landesamtes für Bürger- und

Ordnungsangelegenheiten „Verbot und Beschränkung Ihrer politischen Betätigung“ vom 15. März 2019 rechtswidrig war.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

 

Gründe

1

Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass es rechtswidrig war, ihr die Teilnahme an einer Veranstaltung der Samidoun Palestinian Prisoner Solidarity Network (Samidoun) am 15. März 2019 in Berlin zu untersagen.

2

Die 1947 geborene Klägerin ist jordanische Staatsangehörige palästinensischer Volkszugehörigkeit. Im Jahr 1970 wurde sie in Israel von einem Militärgericht unter anderem wegen der Beteiligung an einem Bombenattentat auf einen Jerusalemer Supermarkt zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei dem Anschlag im Februar 1969 waren zwei israelische Studenten getötet und mehrere Menschen verletzt worden. Die Verurteilung erfolgte auch wegen Beteiligung der Klägerin an einem Anschlag auf das Britische Konsulat sowie wegen deren Mitgliedschaft in der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Durch einen Gefangenenaustausch im Jahr 1979/80 kam die Klägerin vorzeitig frei. Sie emigrierte später in die USA. 2004 erwarb sie die US-Staatsbürgerschaft, die ihr 2017 jedoch wieder aberkannt wurde, nachdem herausgekommen war, dass sie bei der Einreise ihre Verurteilung wegen des Bombenattentats verschwiegen hatte.

3

Am 7. Februar 2019 beantragte die Klägerin bei der deutschen Botschaft in Amman die Erteilung eines C-Visums für Kurzaufenthalte in den Schengener Staaten (Schengen-Visum). Dabei legte sie ein Schreiben der F... vor, mit dem sie als eine von zwei Sprecherinnen zu einer Veranstaltung eingeladen wurde, die anlässlich des Weltfrauentags am 15. März 2019 in den Räumen der I... in Berlin-Kreuzberg stattfinden sollte. Laut Einladungsschreiben sollte die Veranstaltung den internationalen Frauentag würdigen und dabei einen besonderen Fokus auf die Errungenschaften arabischer Frauen richten. Unterschrieben war es von der US-Staatsbürgerin H..., die mit Herrn P... verheiratet ist, der als Geschäftsführer des F... tätig war und die Organisation Samidoun gegründet hatte. Am 17. Februar 2019 wurde der Klägerin das begehrte Schengen-Visum mit Gültigkeitsdauer vom 11. März 2019 bis 10. März 2020 erteilt.

4

Am 11. März 2019 reiste die Klägerin in die Bundesrepublik Deutschland ein. Laut Presseberichten wurde sie am Flughafen von Herrn G... empfangen.

5

Die Einreise der Klägerin rief zahlreiche Pressereaktionen hervor. Die Berliner Zeitung titelte beispielsweise am 13. März 2019 „Warum darf diese Terroristin in Berlin auftreten?“ (m...). Die Tageszeitung taz brachte am selben Tag den Artikel „Verurteilte Terroristin soll auftreten“ (m...). Der Tagesspiegel berichtete unter anderem am 15. März 2019 unter dem Titel „Terroristin W.... Sprengsatz des Antisemitismus in Berlin“ über den geplanten Auftritt der Klägerin (m...). Nach dem Tagesspiegelbericht verurteilten der amerikanische und der israelische Botschafter, der Zentralrat der Juden in Deutschland und das Jüdische Forum den geplanten Auftritt der Klägerin scharf. Der Regierende Bürgermeister Berlins habe die Veranstaltung als Provokation bezeichnet und der Berliner Innensenator habe sich mit Sorge über den Auftritt der Klägerin geäußert.

6

Am 13. März 2019 rief die Organisation Samidoun per Facebook zu der am 15. März 2019 um 18.00 Uhr stattfindenden Veranstaltung „Palästinensische Frauen im Befreiungskampf“ auf, an der als besondere Gäste „Befreite palästinensische weibliche Gefangene aus dem besetzten Palästina“ teilnehmen sowie die T...Gruppe und das F... mit einem Kulturprogramm auftreten sollten. In dem Aufruf hieß es unter anderem (übersetzt aus dem Arabischen):

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„Wir wissen, dass dieses Ereignis von den Verteidiger*innen von Apartheid und Kolonialismus nachhaltig angegriffen wird. Und die Frage ist…..warum? Die Antwort ist klar: Sie wollen nicht, dass die Leute hören, was W... zu sagen hat. Sie wollen auch nicht, dass die Leute von I... hören – weshalb wurde sie wegen ihrer Gedichte ins Gefängnis geworfen. Sie haben keine Angst vor W..., weil sie eine “Terroristin” ist (wie sie fälschlicherweise behaupten), sondern weil W... mit Klarheit über die Realität von palästinensischen Frauen unter Besatzung, Apartheid und Kolonialismus spricht. Sie wollen nicht, dass die Menschen ihre Worte hören; ihre Geschichte von Folter und Inhaftierung, die 1977 in der UNO und auf den Seiten der britischen Sunday Times weltweit zu hören war…. und ihre Geschichte von Widerstandsfähigkeit und Widerstand, die dazu führten, dass sie im Alter von 66 Jahren in Chicago den Mosaic Award for Outstanding Community Service für die Organisationarbeit mit Hunderten von arabischen Frauen zur Verteidigung ihrer Rechte erhielt. Sie wollen nicht, dass ihr der Frau zuhört, die Unterstützung von F..., Jewish Voice for Peace (US) und transnationalen Feministinnen auf der ganzen Welt erhalten hat.

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Aber wir möchten, dass ihr hört, was W... und I... zu sagen haben. Bitte kommt am Freitagabend, 15. März um 18 Uhr, R..., Berlin, zu uns, um die Stimmen von palästinensischen Frauen im Kampf zu hören.“

9

Die Boykottorganisation „Boykott – Desinvestition – Sanktionen“ (BDS) stellte am 13. März 2019 unter dem Titel „Palästinensische Frauen im Befreiungskampf“ auf ihrer Internetseite die deutsche Übersetzung des Facebook-Aufrufs von Samidoun vom 13. März 2019 ein und führte dazu aus:

10

„BDS Berlin unterstützt die Veranstaltung von Samidoun Palestinian Prisoner Solidarity Network am Freitag, den 15. März 2019 von 18:00 – 21:00 Uhr, R... Berlin und ruft alle Unterstützer*innen der internationalen BDS-Bewegung auf, ihre Solidarität mit den palästinensischen Frauen im Befreiungskampf zu zeigen“ (m...).

11

Mit Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) vom 15. März 2019 hob der Beklagte das Schengen-Visum auf, setzte der Klägerin eine Ausreisefrist bis zum 22. März 2019 und drohte ihr die Abschiebung nach Jordanien an. Den hiergegen gerichteten Eilantrag wies das Verwaltungsgericht Berlin mit Beschluss vom 21. März 2019 zurück (Q...). Die dagegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos (T...). Über die Klage in der Hauptsache (Q...) ist noch nicht entschieden.

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Mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid des LABO vom 15. März 2019 „Verbot und Beschränkung Ihrer politischen Betätigung“, welcher der Klägerin zusammen mit der Aufhebung des Schengen-Visums kurz vor der geplanten Veranstaltung auf öffentlichem Straßenland übergeben wurde, untersagte der Beklagte dieser ohne vorherige Anhörung die Teilnahme an der Veranstaltung der Samidoun Palestinian Prisoner Solidarity Network am Freitag, den 15. März 2019, in Berlin (Ziffer 1) und ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheides an (Ziffer 2). Zur Begründung führte der Beklagte aus, der geplante Auftritt der Klägerin beeinträchtige und gefährde das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern bzw. von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet. Aufgrund ihrer Lebensgeschichte sei zu erwarten, dass die Klägerin in ihrem Redebeitrag zum Thema „Palästinensische Frauen im Befreiungskampf“ diesen Befreiungskampf als gewaltsamen Kampf glorifizieren werde. Die Klägerin sei 1970 in Israel wegen Beteiligung an einem Bombenattentat zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Sie sei eine Ikone der Palästinenserbewegung. Zudem kooperiere sie mit offenkundig antisemitischen Gruppierungen wie dem BDS, Samidoun und Hirak. Es stehe deshalb zu befürchten, dass insbesondere jüdische Mitmenschen und Menschen mit arabisch-palästinensischem Migrationshintergrund in ihrem friedlichen Zusammenleben beeinträchtigt würden. Hierfür spreche auch, dass der geplante Auftritt der Klägerin bereits im Vorfeld zu teils sehr heftigen und polemischen Reaktionen und Auseinandersetzungen geführt habe. Hierzu verwies der Beklagte auf öffentliche Stellungnahmen von jüdischen Vereinen und Institutionen. Zudem stelle der geplante Auftritt der Klägerin auch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Es sei zu erwarten, dass gegen Straftatbestände verstoßen werde. Relevant sei hierbei insbesondere das Verbot der Bildung terroristischer Vereinigungen. Die Klägerin pflege enge Kontakte zur PFLP. Dies sei bereits daraus ersichtlich, dass sie am Flughafen von einem hochrangigen Vertreter der PFLP abgeholt worden sei. Zwar sei die PFLP bisher nicht verboten. Sie werde aber von Israel, der Europäischen Union sowie den USA als Terrororganisation eingestuft. Schließlich seien auch sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, da nicht ausgeschlossen sei, dass der geplante Auftritt der Klägerin, bei dem antisemitische Äußerungen zu erwarten seien, die Beziehung Deutschlands zu Israel in erheblichem Maße gefährde. Die Entscheidung sei auch verhältnismäßig. Zwar sei die Meinungsfreiheit ebenso wie die allgemeine Handlungsfreiheit ein hohes Gut. Es überwiege aber das öffentliche Interesse, die zu erwartenden antisemitischen Äußerungen der Klägerin zu unterbinden, und die Unterstützung von Terrororganisationen wie der PFLP, der die Klägerin angehöre bzw. mit der sie zumindest kooperiere, möglichst effektiv einzudämmen. Dies gelte insbesondere auch deswegen, weil Deutschland dem israelischen Staat auf Grund seiner Geschichte in besonderem Maße verpflichtet sei.

13

Die Klägerin legte am 19. März 2019 Widerspruch gegen diesen Bescheid ein.

14

Unmittelbar nach Erlass der Verbotsverfügung erklärte die Organisation Samidoun in einer Pressemitteilung vom 15. März 2019, die Veranstaltung „Palästinensische Frauen im Befreiungskampf“, die am 15. März 2019 in der I... geplant gewesen sei, habe zum Ziel gehabt, die Lebensgeschichte von zwei palästinensischen Frauen unterschiedlicher Generationen sichtbar zu machen und den internationalen Frauentag zu würdigen. Die beiden eingeladenen Sprecherinnen W... und I... hätten Einblicke in marginalisierte Narrative der Erfahrung von Folter, Inhaftierung, sowie Kunst und gesellschaftlichem Engagement als Formen des gewaltfreien Widerstands geben sollen. In der Pressemitteilung heißt es, W... und die Organisator*innen der Veranstaltung würden jegliche Form von Gewalt, Antisemitismus, Rassismus und Sexismus strikt ablehnen.

15

Die Klägerin ließ die ihr gesetzte Ausreisefrist verstreichen, ohne aus der Bundesrepublik Deutschland auszureisen. Nachdem die Organisation Samidoun auf Facebook für den 27. März 2019 eine Veranstaltung mit dem Titel „W... spricht“ mit einem Auftritt der Klägerin angekündigt hatte, untersagte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid des LABO vom 27. März 2019 auch die Teilnahme an dieser Veranstaltung sowie an allen weiteren politischen Veranstaltungen in Berlin bis zum 10. April 2019. Bei der Veranstaltung am 27. März 2019, die in Abwesenheit der Klägerin stattfand, wurde eine Videobotschaft der Klägerin gezeigt. Am 1. April 2019 reiste die Klägerin freiwillig nach Jordanien aus. Sie wurde unter anderem von Herrn P... und dessen Ehefrau zum Flughafen begleitet.

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Am 4. Juni 2019 hat die Klägerin gegen den mit „Verbot und Beschränkung Ihrer politischen Betätigung“ überschriebenen Bescheid des LABO vom 15. März 2019 Klage erhoben.

17

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2019 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führt der Beklagte aus, der Widerspruch sei bereits unzulässig, weil sich das Verbot der politischen Betätigung am 15. März 2019 durch Zeitablauf erledigt habe. Nach einschlägiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei ein Widerspruchsverfahren gegen einen Verwaltungsakt, der sich erledigt habe, einzustellen.

18

Zur Begründung ihrer Klage trägt die Klägerin vor, der Beklagte habe den zugrunde liegenden Sachverhalt falsch ermittelt und sich allein auf bewusst verzerrende und schmähende Presseberichte gestützt. Er hätte berücksichtigen müssen, dass die Verurteilung wegen angeblicher Teilnahme an einem Bombenattentat von 1970 aufgrund eines durch Folter erpressten falschen Geständnisses zustande gekommen sei und mittlerweile bereits 50 Jahre zurückliege. Zu den Hintergründen verweist die Klägerin auf den Bericht eines UN-Sonderkomitees vom .... Der Beklagte habe zudem ihre politischen Aktivitäten in den letzten Jahrzehnten völlig falsch gewürdigt. Sie verherrliche keineswegs Gewalt und habe zu keinem Zeitpunkt zu Hass oder Gewalt aufgerufen. Vielmehr engagiere sie sich bereits seit Jahrzehnten in der friedlichen internationalen Frauenbewegung. Sie habe sich als Frauenrechtlerin im „Arab Women’s Committee“ im Rahmen des „Arab American Action Networks“ in Chicago betätigt und dort beispielsweise für die amerikanisch-arabische Community Englischunterricht und Staatsbürgerkunde initiiert. Sie habe auch mit Bewegungen wie der „Jewish Voice for Peace“ zusammengearbeitet. 2013 sei sie in Chicago für ihr besonderes bürgerschaftliches Engagement mit einem Preis geehrt worden. 2017 sei sie Mitunterzeichnerin eines Aufrufs gegen die als frauenfeindlich wahrgenommene Politik des damaligen US-Präsidenten Trump gewesen und anlässlich des „Women’s March“ gegen dessen Amtseinführung zu einem bekannten Gesicht der US-amerikanischen Frauenbewegung geworden. Sie sei kein Mitglied des BDS. Dieser sei auch nicht Hauptveranstalter der für den 15. März 2019 geplanten Veranstaltung gewesen. Im Übrigen treffe der Vorwurf, der BDS sei antisemitisch, nicht zu. Sie habe, anders als vom Beklagten unterstellt, auch keine Verbindungen zur PFLP. Die vom Beklagten aufgrund behaupteter Begegnungen mit Herrn G... abgeleitete „Kontaktschuld“ reiche nicht aus, um ihr selbst ein gefährdendes Verhalten anzulasten.

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Die Klägerin beantragt,

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festzustellen, dass der Bescheid vom 15. März 2019 des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Ausländerbehörde Berlin, rechtswidrig war.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung beruft er sich auf die Begründung des angefochtenen Bescheids. Ergänzend verwahrt er sich gegen den Vorwurf, den Sachverhalt falsch ermittelt zu haben. Die Klägerin selber bestreite nicht, eine Ikone der Palästinenserbewegung zu sein. Ihre Auftritte hätten Signalwirkung. Sie kooperiere nachweislich mit antisemitischen Gruppierungen wie dem BDS, Samidoun, Hirak und der unter Terrorverdacht stehenden PFLP. Dies ergebe sich bereits aus der Ankündigung der Veranstaltung vom 15. März 2019, wonach der Vortrag „Palästinensische Frauen im Befreiungskampf“ von Samidoun veranstaltet worden sei. Der BDS Berlin habe die Veranstaltung öffentlich unterstützt. Die Verbindungen von BDS und Samidoun zur PFLP seien bekannt. Die Befürchtung, dass der Auftritt der Klägerin den schwelenden politischen Konflikt zwischen Juden und Arabern/Palästinensern beleben könne, sei schon durch die zahlreichen Reaktionen begründet, die der geplante Auftritt der Klägerin bereits im Vorfeld in der Öffentlichkeit hervorgerufen habe. Ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit liege nicht vor, da die aufenthaltsrechtliche Verbotsnorm es erlaube, die politische Betätigung von Ausländern zu beschränken.

24

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Streitakte und das Sitzungsprotokoll sowie auf die beigezogenen Gerichtsakten (Q...) und den Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.

26

I. Sie ist als Fortsetzungsfeststellungklage statthaft und auch im Übrigen zulässig.

27

Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthaft. Das hier streitgegenständliche Verbot der politischen Betätigung bezog sich auf eine Veranstaltung am 15. März 2019. Mit Ablauf dieses Tages hat sich der angefochtene Bescheid somit – vor Klageerhebung – erledigt. Die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Fortsetzungsfeststellungsklage sind gegeben. Insbesondere kann sich die Klägerin auf ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse berufen, denn es liegt ein nicht nur unerheblicher Eingriff in das von Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) geschützte Grundrecht der Klägerin auf Meinungsfreiheit vor. Die diskriminierende Wirkung dieses Eingriffs wirkt auch fort. Aus dem politischen Betätigungsverbot ergibt sich eine Stigmatisierung der Klägerin, die geeignet ist, ihr Ansehen in der Öffentlichkeit herabzusetzen.

28

Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. Die Klägerin hat ihren Antrag zu Recht nur auf den Ausgangsbescheid vom 15. März 2019 – und nicht auch auf den Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2019 – bezogen, da ein Vorfahren im Sinne von § 68 VwGO in dem Fall, in dem sich ein Verwaltungsakt – wie hier – vor Klageerhebung erledigt hat, nicht erforderlich bzw. nicht statthaft ist. Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, ist ein Vorverfahren in dieser Fallkonstellation unnötig und unzulässig. Es ist nicht Aufgabe der Verwaltung, verbindlich über die Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts zu entscheiden. Zudem kann das Vorverfahren nach Erledigung der Hauptsache seinen Zweck nicht mehr erfüllen.

29

II. Die Klage ist auch begründet. Das mit Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides ausgesprochene Verbot politischer Betätigung war rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Wegen der Rechtswidrigkeit der Grundverfügung erweist sich auch die sofortige Vollziehung (Ziffer 2 des Bescheids) als rechtswidrig.

30

Die Verbotsverfügung war zwar formell rechtmäßig. Das politische Betätigungsverbot genügt insbesondere dem Bestimmtheitsgebot nach § 37 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes (VwVfG), das gemäß § 1 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren der Berliner Verwaltung anwendbar ist. Es bezieht sich auf die Veranstaltung von Samidoun am 15. März 2019 in Berlin. Sowohl der Veranstalter wie auch das Datum und der Ort der Veranstaltung sind im Tenor des Bescheids ausdrücklich benannt. Für die Klägerin als Adressatin des Bescheids war unmissverständlich klar, auf welche Veranstaltung sich das Verbot bezog, da es am 15. März 2019 nur eine einzige Veranstaltung von Samidoun in Berlin gab und ihr der Bescheid zudem unmittelbar am Ort der geplanten Veranstaltung überreicht wurde. Dass der genaue Titel der Veranstaltung im Tenor nicht erwähnt wird, ist – entgegen der klägerischen Auffassung – unschädlich, da es in Berlin an dem besagten Tag keine andere Veranstaltung von Samidoun gab, mit der eine Verwechslungsgefahr bestanden hätte. Zudem ergeben sich Ort, Zeit und Thema der Veranstaltung explizit aus der Begründung des Bescheides. Von einer Anhörung der Klägerin konnte abgesehen werden, da sie nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten war (§ 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG).

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Das politische Betätigungsverbot war jedoch materiell rechtswidrig.

32

Als Rechtsgrundlage für die Untersagung der Teilnahme an der in Rede stehenden Veranstaltung kommt vorliegend allein § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in Betracht. Danach kann die politische Betätigung eines Ausländers beschränkt oder untersagt werden, soweit sie die politische Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland oder das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern oder von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet (Nr. 1) oder den außenpolitischen Interessen oder den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland zuwiderlaufen kann (Nr. 2).

33

Die Beschränkung und Untersagung politischer Betätigung im Ermessensweg nach § 47 Abs. 1 AufenthG dient der präventiven Abwehr spezifischer Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Soweit sich die Tatbestände des § 47 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auf die Gefährdung von Rechtsgütern (Nr. 1) oder auf mögliche Kollisionen mit Interessen oder Verpflichtungen beziehen (Nr. 2), ist eine Gefahrenprognose anzustellen. Ausgehend von dem allgemeinen polizeilichen Gefahrenbegriff liegt eine Gefährdung dann vor, wenn es bei ungehindertem Verlauf der konkreten politischen Betätigung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft zu einer Verletzung der in Rede stehenden Rechtsgüter bzw. zu einer Interessens- oder Verpflichtungskollision kommt, also eine konkrete Gefahr besteht (NK-AuslR/Winfried Möller, 3. Aufl. 2023, AufenthG § 47 Rn. 17). Tatsachen, die den Schluss auf eine zukünftige Beeinträchtigung rechtfertigen, sind beispielsweise bereits geschehene Beeinträchtigungen und vom Adressaten in jüngster Vergangenheit begangene Normverstöße (Zeitler, HTK-AuslR, Stand: 18.11.2016, § 47 AufenthG, Rn. 18). Eine lediglich auf Vermutungen beruhende Prognose ohne Tatsachenbasis (sog. Gefahrenverdacht) reicht dagegen nicht aus (Bergmann/Dienelt/Samel, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 47 Rn. 8). Entscheidungserheblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt des Erlasses der behördlichen Entscheidung (BeckOK AuslR/Hruschka, AufenthG § 47 Rn. 29), hier des streitgegenständlichen Bescheides vom 15. März 2019.

34

Da es sich bei § 47 Abs. 1 AufenthG um ein die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) in zulässiger Weise einschränkendes allgemeines, also nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche gerichtetes Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG handelt (Bergmann/Dienelt/Samel, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 47 Rn. 5, a.A. NK-AuslR/Winfried Möller, 3. Aufl. 2023, AufenthG § 47 Rn. 5 ff, jeweils m.w.N.), ist die Vorschrift im Lichte des Grundrechts auszulegen. Zudem muss stets der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden, der eine strenge Prüfung der Erforderlichkeit des Eingriffs und der Geeignetheit des Mittels gebietet (Bergmann/Dienelt/Samel, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 47 Rn. 9).

35

Zu Recht steht zwischen den Beteiligten außer Streit, dass der Klägerin mit der untersagten Teilnahme an der Veranstaltung von Samidoun eine politische Betätigung im Sinne des § 47 Abs. 1 AufenthG untersagt wurde.

36

Die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen für das politische Betätigungsverbot sind jedoch in keiner der hier allein als Rechtsgrundlage in Frage kommenden Tatbestandsalternativen des § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG erfüllt. Die vom Beklagten angestellte Gefahrprognose hält der richterlichen Überprüfung nicht stand. Zum maßgeblichen Zeitpunkt lagen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Auftritt der Klägerin bei der Veranstaltung von Samidoun am

15. März 2019 das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern oder von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet (1) oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung (2) oder sonstige erheblichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet hätte (§ 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG) bzw. den außenpolitischen Interessen oder den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG zuwidergelaufen wäre (3).

37

1. Der geplante Auftritt der Klägerin stellt keine Gefährdung des friedlichen Zusammenlebens von Deutschen und Ausländern oder von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet im Sinne von § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG dar.

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Diese Tatbestandsalternative dient dem präventiven Schutz des öffentlichen Friedens. Der öffentliche Frieden umfasst den Zustand eines von der Rechtsordnung gewährleisteten, frei von Furcht voreinander verlaufenden Zusammenlebens der Bürger und deren Vertrauen in die Fortdauer dieses Zustandes (NK-AuslR/Winfried Möller, 3. Aufl. 2023, AufenthG § 47 Rn. 19). Eine Gefährdung des friedlichen Zusammenlebens tritt etwa als Folge von Hetzreden oder Hasspredigten ein. Erfasst wird auch jede Form von Agitation, die andere gegeneinander aufbringt (Zeitler, HTK-AuslR, Stand: 18.11.2016, § 47 AufenthG, Rn. 19). Hierfür lagen bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheides keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte vor.

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a) Zu Unrecht geht der Beklagte im Rahmen seiner Gefahrenprognose davon aus, aufgrund der Lebensgeschichte der Klägerin und ihrer Wahrnehmung als Symbolfigur der palästinensischen Befreiungsbewegung sei zu erwarten, dass sie die Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel im Befreiungskampf glorifizieren werde.

40

Zwar ist die Lebensgeschichte der Klägerin und wohl auch deren Wahrnehmung in palästinensischen Kreisen maßgeblich davon geprägt, dass sie im Jahr 1970 unter anderem wegen der Beteiligung an einem Bombenattentat auf einen Jerusalemer Supermarkt zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Seit der Verurteilung sind allerdings zwischenzeitlich mehr als 50 Jahre vergangen. Zudem hat sich die Klägerin von dem Bombenattentat insoweit distanziert, als sie betont, das von ihr während ihrer Inhaftierung abgegebene Geständnis sei nur unter Folter erfolgt, und zum Ausdruck bringt, zu Unrecht wegen des Bombenattentats verurteilt worden zu sein. Vor allem aber hat sich die Klägerin während ihres Aufenthalts in den USA in den vergangenen Jahrzehnten ein neues Profil als mit friedlichen Formen des Protestes agierende internationale Frauenrechtlerin erarbeitet. Dort ist sie durch ihren Einsatz für Frauenrechte und ihr kontinuierliches bürgerschaftliches Engagement zu öffentlicher Bekanntheit gekommen. Im Rahmen der Proteste gegen die als frauenfeindlich wahrgenommene Politik des damaligen Präsident Donald Trump ist sie in den USA zu einem bekannten Gesicht der Frauenbewegung geworden. Für ihr zivilgesellschaftliches Engagement bei der Integration arabischer Migrantinnen wurde sie 2013 in Chicago mit einem Preis geehrt. Diese Entwicklung im Leben der Klägerin hat der Beklagte in seiner Entscheidung zu Unrecht unberücksichtigt gelassen.

41

Hinzu kommt, dass der Beklagte keine aktuellen tatsächlichen Anhaltspunkte benennt, die den Schluss zulassen, die Klägerin werde bei ihrem Auftritt den palästinensischen Befreiungskampf als gewaltsamen Kampf glorifizieren. Der Beklagte zitiert keinerlei öffentlichen Äußerungen oder Auftritte der Klägerin aus jüngerer Zeit, die diese Folgerung tragen. Auch dem Gericht sind – etwa im Rahmen einer Internetrecherche – keine konkreten gewaltverherrlichenden Äußerungen oder Aktivitäten der Klägerin aus jüngerer Zeit bekannt geworden.

42

Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass die Klägerin – wie vom Beklagten ohne weitere Angaben angenommen – in palästinensischen Kreisen weiterhin als „Symbol für einen gewaltsamen Kampf gegen Israel“ und „Ikone der Palästinenserbewegung“ gilt, greift es zu kurz, sie auf dieses Bild zu reduzieren. Denn angesichts ihres bürgerschaftlichen Engagements und ihrer Aktivitäten in der Frauenrechtsbewegung ist zu erwarten, dass sie zwischenzeitlich in der palästinensischen Wahrnehmung jedenfalls auch insoweit eine Symbolfigur darstellt. Im Übrigen reicht die bloße Zuschreibung bestimmter Positionen durch palästinensische Kreise nicht für die Prognose, dass von der Klägerin bei der Veranstaltung im Jahr 2019 Agitation und Hetzreden zu erwarten gewesen wären.

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b) Auch aus den Begleitumständen des geplanten Auftritts, insbesondere aus der Ankündigung und der thematischen Schwerpunktsetzung der Veranstaltung sowie aus der personellen Besetzung der Ko-Rednerin, folgt nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin antisemitische, zu Gewalt aufstachelnde Äußerungen getätigt hätte.

44

Nach der Facebook-Ankündigung der Veranstaltung vom 13. März 2019, die der BDS auf seiner Internetseite zitiert und die Teil des Verwaltungsvorgangs des Beklagten ist, waren neben kulturellen Darbietungen durch zwei Musik- bzw. Theatergruppen Redebeträge zweier „besonderer Gäste“ vorgesehen, die als „befreite palästinensische weibliche Gefangene aus dem besetzten Palästina“ bezeichnet wurden und die über ihre „Geschichte von Folter und Inhaftierung“ berichten sollten. Die Vorstellung der Klägerin beschränkt sich dabei nicht darauf, dass sie über „die Realität von palästinensischen Frauen unter Besatzung, Apartheid und Kolonialismus“ sprechen werde. Vielmehr wird ausführlich auch auf deren „Organisationsarbeit mit Hunderten von arabischen Frauen zur Verteidigung ihrer Rechte“, die zur Verleihung des „Mosaic Award für Outstanding Community Service“ geführt habe, und deren Unterstützung durch die Vereinigung „Jewish Voice for Peace (US)“ und „transnationale Feministinnen auf der ganzen Welt“ Bezug genommen. Dies belegt, dass die Klägerin selbst in palästinensischen Kreisen nicht auf ein „Symbol des bewaffneten Befreiungskampfes“ reduziert wird.

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Neben der Klägerin sollte als zweite Sprecherin I... auftreten, eine 1982 geborene israelische Palästinenserin und Schriftstellerin, die 2018 in Israel wegen des Vorwurfs des Aufrufs zu Gewalt und der Unterstützung einer terroristischen Organisation zu fünf Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, unter anderem, weil sie im Internet ein von ihr geschriebenes Gedicht veröffentlicht hatte. 2019 erhielt sie den PEN Award für Meinungsfreiheit. Die Auswahl von I... als zweite Sprecherin, die in erster Linie durch ihr schriftstellerisches Engagement bekannt ist, und der Fokus auf das zivilgesellschaftliche und künstlerische Engagement der beiden Frauen, machen es nach Einschätzung der Kammer weniger wahrscheinlich, dass die Veranstaltung als Plattform für gewaltverherrlichende Agitation gedient hätte.

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Auch der klare thematische Bezug der Veranstaltung zum Internationalen Weltfrauentag am 8. März spricht eher gegen die Annahme, die Veranstaltung hätte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als Plattform für antisemitische Hetzreden gedient. Die Veranstaltung sollte eine Woche nach dem Internationalen Weltfrauentag stattfinden und weist somit einen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu diesem auf. Auch der Titel der Veranstaltung „Palästinensische Frauen im Befreiungskampf“ stellt einen Bezug zum Weltfrauentag her. Dies ist auch inhaltlich stimmig mit der oben dargestellten Vita der Klägerin, die sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem durch ihren Einsatz für Frauenrechte einen Namen gemacht hat. Die Auswahl von zwei weiblichen Rednerinnen spricht in diesem Zusammenhang für sich. Der in der mündlichen Verhandlung thematisierte mögliche Bezug zum sogenannten „Tag des Bodens“ am 30. März  – einem Gedenk- und Protesttag, der sich gegen staatliche Enteignungen palästinensischer Israelis richtet (https://de.wikipedia.org/wiki/Tag_des_Bodens) – ist hingegen eher fernliegend. Zwar besteht eine gewisse zeitliche Nähe der geplanten Veranstaltung zu diesem Tag. Ansonsten lassen aber weder der Titel der Veranstaltung noch die Auswahl der Rednerinnen einen inhaltlichen Anknüpfungspunkt zum Tag des Bodens erkennen. Hinzu kommt, dass weder der Veranstalter Samidoun noch der für die Veranstaltung werbende BDS bei der Ankündigung der Veranstaltung einen Bezug zum Tag des Bodes hergestellt haben.

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c) Auch die Begründung des Beklagten, von der Klägerin seien wegen ihrer Nähe zu den an der Veranstaltung beteiligten Organisationen Hirak, BDS, Samidoun und PFLP antisemitische und gewaltverherrlichende Äußerungen zu erwarten gewesen, trägt nicht. Es fehlen ausreichende Anhaltspunkte für die Mitgliedschaft der Klägerin in, die Unterstützung von bzw. jedenfalls die Kooperation mit diesen Organisationen.

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aa) Soweit der Beklagte eine Nähe der Klägerin zu der Jugendorganisation der PFLP namens Hirak behauptet, bleibt er jegliche Belege hierfür schuldig. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, welche Rolle Hirak im Zusammenhang mit der Veranstaltung gespielt haben soll. Dass Hirak selber als Veranstalter aufgetreten wäre, ist weder aus den vorliegenden Unterlagen noch sonst ersichtlich.

49

bb) Ohne Erfolg stützt der Beklagte seine Gefährdungseinschätzung darauf, der Auftritt der Klägerin habe im Rahmen einer Veranstaltung der Boykottorganisation BDS stattfinden sollen, die eindeutig antisemitisch sei, weshalb auch von der Klägerin antisemitische Äußerungen zu erwarten gewesen seien. Dafür, dass der BDS selber als Veranstalter fungierte, gibt es keine Anhaltspunkte. Aus der im angefochtenen Bescheid in Bezug genommenen Internetseite des BDS, die sich als Ausdruck im Verwaltungsvorgang befindet, geht lediglich hervor, dass der BDS die Veranstaltung beworben hat. Dies ist jedoch nicht mit der Funktion als Veranstalter gleichzusetzen. Auf der Internetseite des BDS ist vielmehr ausdrücklich von der „Veranstaltung von Samidoun“ die Rede. Abgesehen davon, dass der BDS die Veranstaltung am

15. März 2019 beworben hat, liegen keine konkreten Anhaltspunkte für eine besondere Nähe der Klägerin zum BDS vor. Es ist weder vom Beklagten vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Klägerin öffentlich als Mitglied, Sprecherin oder aktive Unterstützerin des BDS in Erscheinung getreten wäre. Darauf, ob der BDS als antisemitische Organisation anzusehen ist oder nicht, kommt es für das hiesige Verfahren mithin nicht entscheidungserheblich an.

50

cc) Soweit der Beklagte seine Gefährdungseinschätzung auf die mutmaßliche Unterstützung der Klägerin für die PFLP stützt, trägt auch dies nicht das Verbot der politischen Betätigung. 

51

Zwar ist die PFLP nach Einschätzung der Kammer als terroristische Organisation einzustufen. Sowohl die EU als auch die USA führen die PFLP als terroristische Organisation (vgl. die aktuelle Terrorliste der EU: https://www.consilium.europa.eu/de/policies/ fight-against-terrorism/terrorist-list/). Der Berliner Verfassungsschutz stuft die 1967 gegründete PFLP als terroristische linksextremistische Organisation ein und schätzt das Personenpotential der PFLP in Berlin auf 40 Personen (Verfassungsschutzbericht Berlin 2021, S. 68 – file:///tmp/verfassungsschutzbericht-2021.pdf; vgl. zur Einstufung der PFLP als terroristische Organisation auch VG Berlin, Urteil vom 11. März 2022 – 10 K 266.19 – juris, Rn. 39-42). Die ursprünglich marxistisch-leninistisch orientierte säkulare Organisation verfolgt heute vor allem eine nationalistische Agenda mit dem Ziel der Gründung eines (sozialistischen) palästinensischen Staates in den Grenzen des historischen Palästinas mit Jerusalem als Hauptstadt. Ihr bewaffneter Arm im Nahen Osten, die Abu Ali Mustafa-Brigaden (AAMB), agiert in Israel und im besetzten Westjordanland auch mit terroristischen Mitteln. In Berlin treten PFLP-Anhänger laut Verfassungsschutz vor allem im Rahmen anti-israelischer Proteste öffentlich auf. Dabei kommt es auch zu antisemitischen und israelfeindlichen Ausfällen und zu gewalttätigen Angriffen auf Polizeikräfte.

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Es liegen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin die PFLP und deren terroristische Aktivitäten unterstützt hätte und daher zu erwarten gewesen wäre, dass sie sich bei der Veranstaltung am 15. März 2019 entsprechend zur PFLP geäußert hätte.

53

Zwar weist die Lebensgeschichte der Klägerin mit der Verurteilung durch ein israelisches Militärgericht wegen Mitgliedschaft in der PFLP auf eine – zumindest damals – bestehende Nähe der Klägerin zu dieser Organisation hin. Weiter verkennt die Kammer nicht, dass die Klägerin bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheides persönliche Beziehungen zu Herrn P... unterhielt, der in Presseberichten als Funktionär der PFLP bezeichnet wird. Aus zahlreichen öffentlichen Auftritten und Reden von Herrn G... ist bekannt, dass er die Tätigkeit der PFLP befürwortet, ohne sich von deren terroristischen Taten zu distanzieren. Die Kammer verweist insoweit auf die umfangreichen Feststellungen der 10. Kammer in der bereits zitierten Entscheidung (VG Berlin, Urteil vom 11. März 2022, a.a.O., Rn. 43-50). Auf eine persönliche Nähe der Klägerin zu Herrn G... kann geschlossen werden, da sie von diesem bei ihrer Einreise am 11. März 2019 am Flughafen abgeholt wurde. Zudem war er Geschäftsführer des Verlages, der im Visumsverfahren der Klägerin als deren Einlader aufgetreten war. Es fehlte jedoch im Fall der Klägerin an konkreten und belastbaren Anhaltspunkten aus jüngerer Zeit dazu, dass sie die Positionen der PFLP als eigene teilte. Auch der Beklagte benannte keine konkreten öffentlichen Äußerungen der Klägerin, mit denen sie sich zur PFLP bekannt oder erkennbar deren Agenda unterstützt hätte. Die mehr als 50 Jahre zurückliegende Verurteilung der Klägerin als PFLP-Mitglied und ihr persönlicher Kontakt zu Herrn G... reichen für sich genommen nicht für die Annahme, die Klägerin identifiziere sich mit den Positionen der PFLP und werde diese auch bei der Veranstaltung öffentlich vertreten.

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dd) Schließlich trägt auch das geplante Auftreten der Klägerin auf einer Veranstaltung, die von Samidoun organisiert war, das politische Betätigungsverbot nicht.

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Die Kammer geht ebenso wie der Beklagte davon aus, dass die Veranstaltung am 15. März 2019 von Samidoun organisiert wurde. Dafür spricht zum einen, dass Samidoun die Veranstaltung am 13. September 2019 auf Facebook angekündigt hat, und zum anderen, dass der BDS die Veranstaltung auf seiner Homepage als „Samidoun-Veranstaltung“ beworben hat.

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Bei der Organisation Samidoun handelt es sich um ein Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene, das laut Presseberichten der PFLP nahestehen soll (https://www.welt.de/politik/deutschland/article231233201/Naehe-zu-PFLP-Linksextreme-Terror-Sympathisanten-bei-Anti-Israel-Demos.html). Samidoun selbst bekennt sich auf seiner Internetseite ganz offen zu den Zielen der PFLP. Viele der prominenten Gefangenen, die von Samidoun mit Solidaritäts- und Protestaktionen unterstützt werden, weisen Verbindungen zur PFLP auf. Samidoun wurde 2011 gegründet und hat seinen Sitz in Nordamerika. Das offizielle Ziel von Samidoun ist es, palästinensische Gefangene in ihrem Kampf um die Freilassung aus zumeist israelischen Gefängnissen zu unterstützen. Gründer von Samidoun ist Herr P.... Samidoun ist in Deutschland, anderen europäischen Ländern und Nordamerika aktiv. Der israelische Verteidigungsminister stufte Samidoun im Februar 2021 als terroristische Organisation ein mit der Begründung, es handele sich um einen direkten Ableger der PFLP.

57

Vorliegend fehlt es jedoch an konkreten tatsächlichen Anhaltspunkten dafür, dass die Klägerin diese Organisation tatsächlich aktiv unterstützt. Allein die Teilnahme der Klägerin an einer von Samidoun organisierten Veranstaltung als Rednerin trägt im Ergebnis einer Gesamtbetrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls nicht die Prognose, sie identifiziere sich mit deren Agenda und werde dies auch in der Öffentlichkeit in agitierender Weise propagieren. Es widerspräche Wortlaut sowie Sinn und Zweck des § 47 AufenthG, zur Rechtfertigung eines politischen Betätigungsverbots allein auf den Veranstalter einer (erlaubten) politischen Veranstaltung abzustellen. Der klare Wortlaut der Norm gebietet es vielmehr, für die Gefahrprognose an dem konkreten Verhalten und den konkreten Meinungsäußerungen des betroffenen Ausländers anzuknüpfen.

58

Hinzu kommt, dass sowohl der Veranstalter Samidoun wie auch die beiden Rednerinnen in der Pressemitteilung vom 15. März 2019 ausdrücklich darauf hingewiesen haben, dass sie jegliche Form von Gewalt, Antisemitismus, Rassismus und Sexismus strikt ablehnen. Die Kammer verkennt nicht, dass diese ausdrückliche Distanzierung von Gewalt in der – nach Erlass des politischen Betätigungsverbots – veröffentlichten Pressemitteilung möglicherweise durch ein gewisses strategisches Kalkül motiviert war. Dennoch ist die nachträgliche Pressemitteilung in ihren Grundzügen durchaus stimmig mit der Ankündigung der Veranstaltung durch Samidoun im Vorfeld der Veranstaltung.

59

d) Auch der Umstand, dass bereits die Ankündigung des Auftritts der Klägerin im Vorfeld der Veranstaltung in der Presseberichterstattung hohe Wellen schlug, rechtfertigt nicht die Annahme, dass ihr Auftritt das friedliche Zusammenleben von verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Bundesgebiet gefährdet hätte. Es ist durchaus nachvollziehbar und erwartbar, dass die Vita der Klägerin mit der Verurteilung wegen Beteiligung an einem Bombenattentat eine hohe Medienaufmerksamkeit erzeugt, zumal der mediale Aufruhr nicht unwesentlich durch die Tatsache verursacht gewesen sein dürfte, dass die in Jordanien lebende Klägerin von der deutschen Auslandsvertretung in Amman gerade zum Zweck ihrer Teilnahme an der streitgegenständlichen politischen Veranstaltung ein Schengen-Visum erhalten hatte. Allein aus der kontrovers geführten öffentlichen Debatte lässt sich jedoch keine belastbare Prognose über das zu erwartende Auftreten und die zu erwartenden Äußerungen der Klägerin bei der geplanten Veranstaltung ableiten.

60

e) Auch das Verhalten der Klägerin nach Erlass des streitgegenständlichen Betätigungsverbots, dem ohnehin nur indizielle Bedeutung zukommen kann, stützt die vom Beklagten angestellte Gefährdungsprognose nicht. So hielt sich die Klägerin sowohl an das streitgegenständliche als auch an das mit Bescheid vom 27. März 2019 gegen sie verhängte politische Betätigungsverbot. Nichts anderes ergibt sich aus der Inaugenscheinnahme der Videobotschaft, die am 27. März 2019 auf einer Protestveranstaltung gegen das politische Betätigungsverbot vor Publikum in einem Café abgespielt wurde. Das Video legt nicht nahe, dass die Klägerin sich bei der geplanten Veranstaltung am 15. März 2019 agitatorisch und hetzerisch geäußert hätte. Bei der Veranstaltung am 27. März 2019 herrschte dem Gesamteindruck nach eine ruhige und friedliche Stimmung, was im Übrigen auch durch die im Video aufgezeichnete Stellungnahme des polizeilichen Einsatzleiters bestätigt wurde.

61

2. Von der Teilnahme der Klägerin an der Veranstaltung ging auch keine Beeinträchtigung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Alt. 3 AufenthG aus. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist im Sinne der Generalklausel des allgemeinen Polizeirechts zu verstehen.

62

Die öffentliche Sicherheit, welche die Unversehrtheit der objektiven Rechtsordnung umfasst, wird beispielsweise beeinträchtigt durch Demonstrationen oder Störungen anlässlich eines Staatsbesuchs, bei dem mit öffentlichen Zusammenstößen rivalisierender Gruppen zu rechnen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.07.1975 – I C 35.70, juris), nicht aber durch einen friedlichen Protest. Sie kann auch durch Unterstützungshandlungen für eine verbotene oder terroristische Vereinigung betroffen werden, selbst wenn diese gewaltlos erfolgen (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 08.01.2013 – 11 S 1581/12, juris).

63

Ausgehend hiervon sind keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Teilnahme der Klägerin an der Veranstaltung die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt oder gefährdet hätte. Die Veranstaltung sollte in geschlossenen Räumen vor einem überschaubaren Teilnehmerkreis stattfinden, der auf die Zielgruppe von Sympathisanten der palästinensischen Sache zugeschnitten war. Dass es bei der geplanten Veranstaltung in den Räumen der I... zu Straftaten wie Landfriedensbruch (§ 125 des Strafgesetzbuchs – StGB) gekommen wäre, ist – entgegen der Annahme des Beklagten im Bescheid – eher fernliegend. Auch mit Verstößen gegen das Versammlungsgesetz (Vermummungs- und Schusswaffenverbot) war nicht zu rechnen, da keine Versammlung unter freiem Himmel geplant war und auch keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es im Zuge oder Ausklang der Veranstaltung zu einer spontanen öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel gekommen wäre. Auch für die Bildung einer terroristischen Vereinigung       (§ 129a StGB) fehlt es an konkreten Verdachtsmomenten. Wie bereits dargelegt handelte es sich bei der Organisation Samidoun, die als alleiniger Veranstalter auftrat, nicht um eine verbotene Vereinigung. Sie steht nicht auf der Terrorliste der EU und unterliegt in Deutschland keiner Beschränkung ihrer Betätigung. Bei dem von ihr organisierten Event handelt es sich um eine nicht erlaubnispflichtige politische Veranstaltung.

64

Unter öffentlicher Ordnung wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (Bergman/Dienelt/Bauer, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 53 Rn. 24).

65

Es ist bereits nicht ersichtlich, dass die Teilnahme der Klägerin an der Veranstaltung geeignet war, die ungeschriebenen Regeln zu beeinträchtigen, deren Befolgung nach herrschender Anschauung als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens im Land Berlin angesehen wird.

66

Darüber hinaus ist eine drohende Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung durch die untersagte politische Betätigung des Ausländers regelmäßig – und so auch hier – nicht geeignet, eine die Meinungsfreiheit beschränkende Maßnahme zu legitimieren. Eingriffe in die Meinungsfreiheit sind nämlich nur zur Abwehr von Gefahren für elementare Rechtsgüter gerechtfertigt, was bei einer bloßen Gefährdung der öffentlichen Ordnung in aller Regel nicht der Fall ist (BeckOK AuslR/Hruschka, 36. Ed. 01.07.2020, AufenthG § 47 Rn. 9.1 m.w.N.).

67

3. Die der Klägerin untersagte politische Betätigung führte zu keiner Beeinträchtigung oder Gefährdung sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Alt. 4 AufenthG und lief auch nicht außenpolitischen Interessen im Sinne von § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 1 AufenthG entgegen.

68

Als erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des Auffangtatbestandes von § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Alt. 4 AufenthG kommen insbesondere die auswärtigen Beziehungen zu anderen Staaten in Betracht. Diese können beispielsweise durch Kundgebungen oder Versammlungen anlässlich ausländischer Nationalfeiertage, Gedenktage oder aktueller politischer Ereignisse gestört werden. Zulässig sind Beschränkungen der Meinungsfreiheit in diesem Zusammenhang aber nur, wenn sie unabweisbar notwendig sind. Eine bloße Trübung oder Verunsicherung gegenseitiger Beziehungen reicht insoweit nicht aus (Bergmann/Dienelt/Samel, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 47 Rn. 13). Die eng hiermit im Zusammenhang stehende Tatbestandsalternative des § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 1 AufenthG (zur Abgrenzung der Tatbestandsalternativen vgl. NK-AuslR/Winfried Möller, 3. Aufl. 2023, AufenthG § 47 Rn. 21 einerseits und Bergmann/Dienelt/Samel, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 47 Rn. 13 andererseits) verlangt ein Zuwiderlaufen der politischen Betätigung gegenüber außenpolitischen Interessen. Dies setzt eine Interessensbeeinträchtigung in erheblichem Maße voraus. Die bloße Möglichkeit von Kollisionen mit außenpolitischen Interessen reicht für eine Verbotsverfügung nicht aus (Bergmann/Dienelt/Samel, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 47 Rn. 14).

69

Ausgehend hiervon ist eine erhebliche Gefährdung der Beziehung Deutschlands zum Staat Israel, die als Gefährdung sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik im Sinne von § 47 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG anzusehen wäre, hier ebenfalls nicht ersichtlich.

70

Zwar zeigt die in Presseberichten dokumentierte Reaktion des israelischen Botschafters in Deutschland, dass dieser als Repräsentant des Staates Israel dem Auftritt der Klägerin kritisch gegenüberstand und ein Interesse an der Verhinderung des Auftritts der Klägerin hatte. Es waren jedoch bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheides keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der geplante Redebeitrag der Klägerin auch nur vorübergehend zu einer Trübung der deutsch-israelischen Beziehungen geführt hätte. Dies war umso weniger zu erwarten, als sich gleich mehrere deutsche Amtsträger – wie zum Beispiel der Berliner Innensenator und der Regierende Bürgermeister von Berlin – mit deutlichen Worten kritisch zu dem geplanten Auftritt der Klägerin geäußert hatten. Weder die Veranstalter noch die Veranstaltung hatte zudem in irgendeiner Form Unterstützung oder Zuspruch von offiziellen staatlichen Stellen erhalten. Von einer hinreichenden Gefahr ging im Übrigen auch der Beklagte nicht aus. So heißt es im streitgegenständlichen Bescheid lediglich, es sei „nicht ausgeschlossen“, dass die Beziehung Deutschlands zum Staat Israel durch den Auftritt der Klägerin in erheblichem Maß gefährdet werde.

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4. Selbst wenn man – entgegen der hier vertretenen Auffassung – zugrunde legt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AufenthG erfüllt sind, so ist das Verbot der Teilnahme der Klägerin an der Veranstaltung von Samidoun am 15. März 2019 jedenfalls ermessensfehlerhaft (§ 114 VwGO). Dem Beklagten steht – anders als dies bei der Entscheidung über die Aufhebung des der Klägerin erteilten Schengen-Visums der Fall war – kein Beurteilungsspielraum zu (vgl. Q...). Zwar hat der Beklagte grundsätzlich erkannt, dass er im Rahmen des § 47 Abs. 1 AufenthG Ermessen ausüben muss. Die Ermessensentscheidung ist allerdings bereits deshalb fehlerhaft, weil der Beklagte bei seinen Ermessenserwägungen von falschen Tatsachen ausgegangen ist. So ist der Beklagte irrtümlicherweise davon ausgegangen, der BDS sei als Veranstalter aufgetreten, obwohl er lediglich für die Veranstaltung geworben hat (siehe oben). Zudem hat der Beklagte auch die biographische Entwicklung der Klägerin in den letzten fünf Jahrzehnten nicht ausreichend in die Ermessenserwägungen eingestellt (siehe oben).

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