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Rechtsurteile

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Bezeichnung eines anderen als Kafir = Beleidigung?

Für die Beurteilung ob die Bezeichnung als „Kafir“ eine Beleidigung i.S.d. § 185 StGB darstellt muss sich das entscheidende Gericht mit jeder Deutungsmöglichkeit der einzelnen Äußerung beschäftigen und rechtsfehlerfrei feststellen, dass keine Deutungsmöglichkeit vorliegt, die gerade nicht zu einer Bestrafung führen würde. (Leitsatz der Redaktion)


Beschluss:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Karlsruhe vom 24. April 2019 (7 Cs 530 Js 44946/18) aufgehoben.

2. Der Angeklagte wird freigesprochen. […]

 

Gründe:

I.

 

Das Amtsgericht Karlsruhe hat den Angeklagten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je 10 € verurteilt und hierzu festgestellt:

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Am 13.04.2018 stellte der Betreiber der Facebook-Seite X einen Aufruf in sein Profil ein, um Unterschriften gegen ein vermeintliches geplantes Kopftuchverbot zu sammeln. Anlass dafür war eine Äußerung des Psychologen Ahmad Mansour, der das von Kindern erzwungene Tragen eines Kopftuchs als eine Art des Missbrauchs bezeichnete und daher ein Verbot des Kopftuchs für ein ideologiefreies Aufwachsen der Kinder ohne Geschlechtertrennung und Sexualisierung forderte.

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Aus Verärgerung über diese Aussage schrieb der Angeklagte am 14.04.2018 unter diesen Aufruf mit seinem damaligen Facebook-Account Y von seiner Wohnadresse in A aus über den Z: „Du kafir was für islamexperte islamkritiker kafir“. Dem Angeklagten war dabei bewusst, dass der Begriff „Kafir“ ein auf die Persönlichkeit des Angesprochenen zielender abwertender Begriff ist. Er bezeichnet den Unglauben bzw. den Abfall vom Glauben (Apostasie). Im Islam ist die Apostasie ein todeswürdiges Verbrechen, das zum Ausschluss des Abgefallenen aus der muslimischen Gesellschaft führt (Takfir). Beim Posten dieses Beitrages ging es dem Angeklagten entsprechend seines Wissens darum, über die sachliche Kritik an Z hinaus diesen in seiner Persönlichkeit anzugreifen und ihn in seiner Ehre herabzusetzen.

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Hiergegen richtet sich die Sprungrevision des Angeklagten.

 

II.

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Das Rechtsmittel hat auf die erhobene Sachrüge hin Erfolg.

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1. Das Urteil des Amtsgerichts leidet an einer unzulänglichen Prüfung des Erklärungsinhalts der inkriminierten Äußerung.

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a. Die Auslegung, ob und inwieweit eine Äußerung nach ihrem – allein maßgeblichen – objektiven Erklärungsinhalt ehrverletzenden Charakter hat, ist zwar allein Sache des Tatrichters. Dem Revisionsgericht, dem – ebenso wie bei der Beweiswürdigung – insoweit eine eigene Wertung versagt ist, obliegt allerdings die Prüfung, ob die Auslegung auf Rechtsirrtum beruht, gegen Sprach- und Denkgesetze, Erfahrungssätzen und allgemeine Auslegungsregeln verstößt oder ob sie lückenhaft ist, weil nicht alle tatprägenden Begleitumstände berücksichtigt und nicht alle in Betracht kommenden Deutungsmöglichkeiten geprüft sind […]. Ob und wie weit eine Äußerung beleidigenden Inhalt hat, ist unter Berücksichtigung aller das Tatgeschehen maßgeblich prägenden äußeren und – soweit diese nach außen erkennbar geworden sind – inneren Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Anschauungen und sprachlichen Gebräuche der Beteiligten, der sprachlichen und gesellschaftlichen Ebene sowie der konkreten Situation, in der die Äußerung getätigt wurde, der Art der Beziehung zwischen den Beteiligten sowie des Gewichts, das dem Vorgang beizumessen ist, allein nach deren durch Auslegung zu ermittelndem objektivem Sinngehalt zu bestimmen. Maßstab für die insoweit vorzunehmende Auslegung ist, wie ein alle maßgeblichen tatprägenden Umstände kennender unbefangener verständiger Dritter die Äußerung versteht. Auf die subjektive Sicht und Bewertung des Adressaten sowie auf nach außen nicht hervorgetretene Vorstellungen, Absichten und Motive des sich Äußernden kommt es nicht an […]. Lassen der sprachliche Zusammenhang und die bestimmenden außertextlichen Begleitumstände der inkriminierten Äußerung mehrere Auslegungen zu, sind alle in Frage kommenden, nicht von vornherein fernliegenden alternativen Deutungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, wobei sowohl bei der Prüfung und Bewertung der objektiven Tatbestandsmäßigkeit der Beleidigung als auch bei der Frage einer möglichen Rechtfertigung der ehrverletzenden Äußerung wegen Wahrnehmens berechtigter Interessen (§ 193 StGB) der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) Rechnung zu tragen ist […]. Will sich ein Strafgericht unter mehreren möglichen Deutungen einer Äußerung für die zur Bestrafung führende entscheiden, muss es dafür besondere Gründe angeben, d.h. es muss sich mit allen in Frage kommenden, insbesondere den sich aufdrängenden Deutungsmöglichkeiten auseinandersetzen und in rechtsfehlerfreier Weise diejenigen ausscheiden, die nicht zur Bestrafung führen können […].

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b. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

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(1) Zunächst ist nichts dagegen zu erinnern, dass das Amtsgericht die Äußerung „Du kafir was für islamexperte islamkritiker kafir“ im dargestellten Kontext als Kundgabe der Missachtung und Geringschätz des Ahmad Mansour gegenüber wertet und damit den Tatbestand der Beleidigung als erfüllt ansieht. Denn – im deutschen Sprachgebrauch – ist der Begriff „Kafir“ eine abwertende Bezeichnung für jemanden, der nicht dem islamischen Glauben angehört (Duden-Fremdwörterbuch, 7. Aufl. 2001); es handelt sich um eine (männliche) Person, die nicht an (den aus Sicht des muslimischen Sprechers einzigen, wahren und dergleichen) Gott und die diesem huldigenden islamischen Lehren glaubt und somit (aus muslimischer Sicht) die göttliche Wahrheit durch Irr- oder Unglaube in Frage stellt, leugnet und/oder verwischt (https://de.wiktionary.org/wiki/Kafir; https://www.wortbedeutung.info/Kafir). […]

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(2) Dem Begriff „Kafir“ kann jedoch nicht ohne Weiteres – wie es das Amtsgericht tut –der objektive Sinngehalt einer der Apostasie im Islam (Abfall vom Glauben) schuldigen und damit todeswürdigen Person beigemessen werden.

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(a) Aus dem deutschsprachigen Eintrag in der – regelmäßig als zuverlässige Quelle für allgemeinkundige Tatsachen anzusehende […] – Internet-Enzyklopädie Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Kāfir), den das Amtsgericht nach den Urteilsgründen seiner Wertung zugrunde gelegt hat, ergibt sich bereits, dass der Begriff „Kafir“ in der islamischen Religion mehrere Bedeutungen haben kann. Insbesondere wird zwischen dem „ursprünglich Ungläubigen“ (Kafir asli) und dem vom Islam abgefallenen Ungläubigen (Murtadd) unterschieden. Dem französischsprachigen Wikipedia-Eintrag zufolge sind „ursprünglich Ungläubige“ in diesem Sinne diejenigen, die noch nie der islamischen Religion angehörten, wozu insbesondere Christen und Juden, aber auch Heiden, Buddhisten oder Nichtreligiöse gehören (https://fr.wikipedia.org/wiki/Kufr; so auch im Ergebnis der englischsprachige Eintrag https://en.wikipedia.org/wiki/Kafir). Der Apostasie (im Islam) kann somit nur ein Murtadd, nicht aber ein Kafir asli schuldig sein.

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(b) Auch erscheint keineswegs zwingend, dass Apostasie im Islam – in jedem Fall und ohne Weiteres – als todeswürdig angesehen wird.

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i. Der Koran selbst sieht eine Bestrafung des Apostaten im Diesseits nicht vor; (Heffening, W., “Murtadd”, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, S. 635; https://de.wikipedia.org/wiki/Apostasie_im_Islam). Das Todesgebot wird in der klassischen islamischen Theologie aus Hadithen (Überlieferung von Äußerungen und Handlungen des Propheten Mohammed sowie Dritter, die Mohammed stillschweigen gebilligt haben soll) sowie der islamischen Rechtsprechung hergeleitet […].

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ii. In der modernen islamischen Theologie gibt es hingegen Stimmen, die die Apostasie nicht – wie die traditionelle Lehre – als eine die Todesstrafe rechtfertigende Gefahr für die – irdische – islamische Gemeinschaft (umma), sondern lediglich als Auseinandersetzung zwischen Gott und dem Gewissen des Abtrünnigen ansehen, was die – irdische – Bestrafung des Abtrünnigen nicht fordere […].

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(c) Hiervon ausgehend liegt die Verwendung des Begriffs „Kafir“ auch im Sinne eines ursprünglich Ungläubigen (Kafir asli) nicht fern, um den Betroffenen die – wissenschaftliche oder religiöse – Qualifikation abzusprechen, sich als „Ungläubiger“ im Sinne eines Außenstehenden zu islamischen Gebräuchen und Geboten, insbesondere – wie hier – zur Verhüllungspflicht von Frauen und Mädchen, zu äußern, was im konkreten Fall umso näher liegt, als der Angeklagten den Begriff „Kafir“ im unmittelbaren Zusammenhang mit der – wenn womöglich auch nur rhetorischen – Frage verbunden hat, was „[der Anzeigenerstatter] für ein Islamexperte Islamkritiker“ sei.

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(d) Schließlich wird in theologischen Polemiken unter Muslimen die Bezeichnung des Gegenübers als „Kafir“ offenbar auch als ein gängiges rhetorisches Stilmittel genutzt […].

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(3) Das amtsgerichtliche Urteil setzt sich mit diesen Deutungsmöglichkeiten nicht auseinander. Vielmehr hat das Amtsgericht lediglich die Bedeutung Murtadd im Sinne der traditionellen Theologie in Betracht gezogen, indem es den Begriff „Kafir“ allein und ohne weitere Begründung im unmittelbaren – und offenbar untrennbaren – Zusammenhang mit einer todeswürdigen Apostasie sieht, obwohl zur Erörterung der aufgezeigten Deutungsmöglichkeiten Anlass bestand.

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(a) Zunächst deutet die Formulierung des Amtsgerichts „[Kafir] bezeichnet den Unglauben bzw. den Abfall von Glauben (Apostasie)“ zwar noch darauf hin, dass es von einer Unterscheidung zwischen dem ursprünglich Ungläubigen (Kafir asli) und dem Apostaten (Murtadd) ausgeht, da die Konjunktion „bzw.“ – auch – als alternatives „oder“ verwendet werden kann. Allerdings beschränken sich die weiteren Ausführungen der Urteilsgründe dann auf die Apostasie und ihre Folgen, ohne darzulegen, dass und weshalb die Bedeutung „ursprünglich Ungläubiger“ (Kafir asli) verworfen wird.

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(b) Indes hat es das Amtsgericht versäumt, bei der Feststellung des objektiven Erklärungsgehalts der inkriminierten Äußerung die weiteren, nicht fernliegenden und weniger ehrverletzenden Deutungsmöglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Zwar kann sich die Befassung mit den weiteren – regelmäßig nicht fernliegenden –Deutungsmöglichkeiten erübrigen, wenn aus den Umständen der Tat, insbesondere der Persönlichkeit des Äußernden, ohne vernünftige Zweifel geschlossen werden kann, dass er den Begriff „Kafir“ nur in dem Sinne gebraucht haben kann, dem ihm das Amtsgericht vorliegend beimisst. Solche Umstände sind hier aber nicht festgestellt. Weder teilt das Urteil etwa weitere Postings in dem betreffenden Forum mit, die auf eine solche Deutung des Begriffs „Kafir“ hinweisen könnten, noch hat das Amtsgericht etwa festgestellt, dass es sich bei dem Angeklagten – in einer den objektiven Sinngehalt der Äußerung bestimmenden Weise – erkennbar um einen – radikalen – Islamisten handelt, also einer Person, die einer religiös motivierten Form des Extremismus anhängt […], von dem in aller Regel angenommen werden könnte, dass er den Begriff „Kafir“ gegenüber Andersdenkenden nur in dem vom Amtsgericht gedeutete Sinne gebraucht.

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2. Das Urteil beruht auch auf dem festgestellten Erörterungsmangel, weil die außer Acht gelassenen Deutungsmöglichkeiten nicht zur Strafbarkeit des Angeklagten führen würden. Sie stünden jedenfalls – anders als das Amtsgericht für den seinem Urteil zugrunde gelegten Sinngehalt der inkriminierten Äußerung angenommen hat – im Kontext der festgestellten Sachauseinandersetzung, ohne dass sie – auf der Grundlage der amtsgerichtlichen Feststellungen – als eine bloße Herabsetzung des Betroffenen mit dem alleinigen Ziel der persönlichen Diffamierung (Schmähkritik) angesehen werden könnten […] und wären in der Abwägung mit dem Persönlichkeitsschutz des Betroffenen im Rahmen des § 193 StGB von der Meinungsfreiheit gedeckt.

 

III.

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Der Senat schließt aus, dass in einer neuen Hauptverhandlung weitere Feststellungen getroffen werden können, die ausschließlich eine strafbewehrte Deutung der Äußerungen des Angeklagten zulassen. Der Angeklagte war deshalb unter Aufhebung der landgerichtlichen Entscheidung freizusprechen (§ 354 Abs. 1 StPO). […]

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