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Rechtsurteile

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Einbürgerungszusicherung für ein IGMG-Mitglied

Ein IGMG-Mitglied, der eine Einbürgerungszusicherung erhalten hat, obwohl diese rechtswidrig sein dürfte, kann diese erneut einfordern, wenn er bzgl. seiner Loyalitätserklärung und der damit verbundenen Mitgliedschaft bei der IGMG die Einbürgerungsbehörde nicht arglistig getäuscht hat und die Einbürgerungsbehörde sich genau hierauf stützt. Vor allem, wenn sie den Einbürgerungsbewerber, entgegen eines rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahrens i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG, zwei Jahre über den Stand des Einbürgerungsverfahrens nicht informiert, sodass dem Einbürgerungsbewerber auch ein effektiver Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG verwehrt bleibt. (Leitsatz der Redaktion)


Leitsätze:

1. Die Berufung der Einbürgerungsbehörde auf den Ablauf der Geltungsdauer der Einbürgerungszusicherung kann gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn ein Einbürgerungsbewerber noch während der Geltungsdauer der ihm erteilten Einbürgerungszusicherung die einzige noch offene Einbürgerungsvoraussetzung erfüllt und die Bindungswirkung der Zusicherung während dieses Zeitraums nicht entfallen ist […]. Auf dieser Grundlage kommt jedoch keine Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit in Betracht, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu keinem Zeitpunkt vorlagen.

2. Ein Einbürgerungsbewerber kann einen auf Erteilung einer neuen Einbürgerungszusicherung gerichteten Folgenbeseitigungsanspruch haben, wenn die Einbürgerungsbehörde die Realisierung eines aufgrund der Bindungswirkung der Einbürgerungszusicherung - die nicht nach § 38 Abs. 3 LVwVfG […] entfallen ist und auch nicht hätte zurückgenommen oder widerrufen werden können - gegebenen Einbürgerungsanspruchs dadurch objektiv wesentlich erschwert hat, dass sie den Einbürgerungsbewerber, nachdem dieser aus seiner Sicht alle Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt hat, über den Stand und den Fortgang des Verwaltungsverfahrens im Unklaren lässt (hier bejaht).

 

Urteil:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 7. März 2012 - 1 K 576/11 - aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine neue, auf zwei Jahre befristete Einbürgerungszusicherung zu erteilen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen und die Klage abgewiesen. […]

 

Zum Sachverhalt:

 

Der Kläger begehrt seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.

Der Kläger […] türkischer Staatsangehöriger, der im Jahr 1978 im Wege des Familiennachzugs in die Bundesrepublik Deutschland einreiste, besitzt seit 1986 ein unbefristetes Aufenthaltsrecht. Im Jahr 1987 erlangte er den Hauptschulabschluss. Aus seiner am 20.06.1990 geschlossenen Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen sind drei 1993, 1998 und 2008 geborene Kinder hervorgegangen.

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Am 14.06.2000 beantragte der Kläger bei der Beklagten seine Einbürgerung. Hierbei gab er u.a. die geforderte Loyalitätserklärung ab. Nachdem die Beklagte das Vorliegen der Einbürgerungsvoraussetzungen nach § 85 AuslG festgestellt und insbesondere das Landesamt für Verfassungsschutz ihr unter dem 13.07.2000 mitgeteilt hatte, dass die Einbürgerung unbedenklich sei, erteilte sie dem Kläger am 15.08.2000 eine bis zum 14.08.2002 befristete Zusage der Einbürgerung für den Fall, dass der Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit nachgewiesen werde. Am 27.09.2001 ging der Beklagten die dem Kläger am 19.09.2001 erteilte Erlaubnis der türkischen Behörden zur Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit zu.

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Auf Anfrage der Beklagten teilte das Landesamt für Verfassungsschutz am 12.12.2001 mit, dass es den Einbürgerungsvorgang dem Innenministerium Baden-Württemberg zur weiteren Entscheidung vorgelegt habe.

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Am 18.02.2002 gab der Kläger auf Aufforderung der Beklagten erneut ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und eine entsprechende Loyalitätserklärung ab.

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Unter dem 29.08.2003 teilte das Innenministerium dem Regierungspräsidium Karlsruhe mit, dass es der Einbürgerung des Klägers zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zustimme, da dieser sich in der „Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V.“ - IGMG - engagiere und zumindest im Jahr 2000 dem Vorstand dieser Gemeinschaft in Mannheim angehört habe.

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Ausweislich eines Aktenvermerks vom 15.01.2004 […] gab der Kläger bei einer Vorsprache auf der Einbürgerungsbehörde an, sich seit Jahren in der IGMG in Mannheim zu engagieren und sich mit deren Gedankengut zu identifizieren. Ein Austritt käme für ihn allenfalls bei einem Verbot des Vereins in Frage.

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Mit Verfügung vom 15.01.2004 lehnte die Beklagte nach vorheriger Anhörung die Einbürgerung des Klägers ab, da es an der Voraussetzung des § 85 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG fehle und ein Ausschlussgrund nach § 86 Nr. 2 AuslG bestehe.

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Den gegen diese Verfügung am 12.02.2004 eingelegten Widerspruch wies das Regierungspräsidium Karlsruhe, nachdem das Widerspruchsverfahren zunächst einvernehmlich geruht hatte, mit Bescheid vom 21.02.2011 als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Einbürgerung sei nach den §§ 10 ff. StAG, hilfsweise nach § 8 StAG zu bewerten. Nach § 40 c StAG seien die §§ 8 - 14 in ihrer vor dem 28.08.2007 geltenden Fassung anzuwenden, soweit sie günstigere Bestimmungen enthielten als die Neufassung. Der Kläger erfülle die Einbürgerungsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG a.F. nicht, zudem liege der Ausschlussgrund nach § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG a.F. vor. Er habe die IGMG durch seine Tätigkeit als Vorstandsmitglied in Mannheim zu einer Zeit unterstützt, als diese noch als homogene verfassungsfeindliche Organisation zu betrachten gewesen sei. Die späteren inneren Veränderungen, die die IGMG heute im Hinblick auf ihre Verfassungsfeindlichkeit als inhomogene Organisation erscheinen ließen, seien für die Bewertung des vorliegenden Einbürgerungsbegehrens ohne Belang. Aufgrund der Unterstützung der IGMG, die nach § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG a.F. die Einbürgerung ausschließe, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger sich vorbehaltlos zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekenne. Eine Abwendung von den verfassungsfeindlichen Bestrebungen sei nicht erfolgt.

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Am 03.03.2011 erhob der Kläger Verpflichtungsklage zum Verwaltungsgericht Karlsruhe, zu deren Begründung er u.a. vortrug, er habe nie Bestrebungen verfolgt oder unterstützt, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richteten. Im Jahr 2000 sei er Mitglied des Vorstandes der IGMG in Mannheim gewesen. Der Vorstand habe aus neun bis zwölf Personen bestanden. Er sei insbesondere für Hausaufgabenbetreuung verantwortlich gewesen. Schon damals sei er gegen die insbesondere von der Gründergeneration vertretene „Erbakan-Linie“ gewesen. Er sei gegen jeden Absolutheitsanspruch der islamischen Religion gewesen und für ein tolerantes Zusammenleben mit anderen Religionen eingetreten. Etwa seit 2006 habe er keinen Kontakt mehr zur IGMG. Er besuche zwar manchmal das Freitagsgebet, aber keine Mitgliederversammlungen und nehme auch sonst nicht an Aktivitäten der Organisation teil. Er befürworte den Vorrang der Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats vor etwaigen islamischen Ge- oder Verboten und sehe keinen grundsätzlichen Konflikt zwischen den westlichen Werten und den Werten der islamischen Religion.

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Die Beklagte trat der Klage entgegen. Sie führte aus, die Ausführungen des Klägers zum Ausschlussgrund des § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG a.F. und zur Abwendung von etwaigen verfassungsfeindlichen Bestrebungen seien nicht überzeugend.

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Mit Urteil vom 07.03.2012 - 1 K 576/11 - hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 15.01.2004 und des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 21.02.2011 verpflichtet, den Kläger in den deutschen Staatsverband einzubürgern. Es könne offen bleiben, ob die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG a.F. vorlägen und ob der Ausschlussgrund des § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG a.F. der Einbürgerung entgegenstehe. Der Kläger habe jedenfalls einen Anspruch auf Einbürgerung aus der ihm erteilten Einbürgerungszusage. In dieser Zusage habe die Beklagte sich für den Fall, dass der Kläger den Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit nachweise, verpflichtet, ihn einzubürgern. Dabei habe sie die Bindungswirkung auf den 14.08.2002 befristet. Da der Kläger am 27.09.2001 den Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit nachgewiesen und die Bindungswirkung zu diesem Zeitpunkt noch bestanden habe, ergebe sich aus der Zusage weiterhin ein Anspruch auf Einbürgerung. Die Bindungswirkung sei weder nach § 38 Abs. 3 LVwVfG noch nach § 38 Abs. 2 i.V.m. §§ 48, 49 LVwVfG entfallen.

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Zur Begründung ihrer vom Senat mit Beschluss vom 08.10.2012 - 1 S 939/12 – zugelassenen Berufung trägt die Beklagte im Wesentlichen vor: Der Kläger könne sich aus mehreren Gründen nicht mehr auf die ihm am 15.08.2000 erteilte Einbürgerungszusicherung berufen. Zum einen sei die Bindungswirkung der Zusicherung mit Ablauf des 14.08.2002 entfallen. Zum anderen sei die Zusicherung unter dem Vorbehalt erteilt worden, dass sich die für die Einbürgerung maßgebliche Sach- und Rechtslage bis zur Einbürgerung nicht ändere. Hier sei die Bindungswirkung nach § 38 Abs. 3 LVwVfG durch Änderung der Sachlage entfallen. Zwar sei der Kläger bereits im Zeitpunkt der Erteilung der Zusicherung Mitglied der IGMG gewesen, doch hätten die für die Entscheidung zuständigen Behörden keine Kenntnis davon gehabt, weil der Kläger im Einbürgerungsverfahren diesbezüglich falsche Angaben gemacht habe. Die Zusage wäre nämlich nicht erteilt worden, wenn der Kläger bei Abgabe der Loyalitätserklärung seine Mitgliedschaft bzw. Funktionärstätigkeit in der IGMG angegeben hätte. Diese Vereinigung sei vom Verfassungsschutz bereits damals als extremistisch eingestuft worden, weil sie auf die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abziele. Die erst durch eine erneute Überprüfung bekannt gewordenen Tatsachen für den Ausschlussgrund des § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG a.F. bedingten somit eine Änderung der Sachlage und führten zum Wegfall der Bindungswirkung. Ebenfalls zu Unrecht sei das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Kläger innerhalb der Geltungsdauer der Zusicherung deren Bedingung erfüllt habe. Bei der von ihm vorgelegten Entscheidung der türkischen Behörden vom 19.09.2001 handele es sich nicht um eine Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit, sondern lediglich um eine Erlaubnis zum Austritt aus der türkischen und zur Annahme einer anderen Staatsangehörigkeit. Diese Erlaubnisbescheinigung habe nur eine Geltungsdauer von drei Jahren gehabt und sei daher nicht mehr gültig. Die Voraussetzungen für eine Einbürgerung des Klägers unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit lägen nicht vor. Ein Einbürgerungsanspruch ergebe sich wegen Vorliegens des Ausschlussgrundes des § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG a.F. und Nichterfüllung der Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG a.F. auch nicht aus der gesetzlichen Anspruchsgrundlage des § 10 StAG.

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Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 7. März 2012 - 1 K 576/11 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise, das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 7. März 2012 - 1 K 576/11 - zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, ihm eine neue Einbürgerungszusicherung zu erteilen.

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Er verteidigt das angefochtene Urteil und trägt ergänzend vor: Mit Vorlage der Erlaubnis zum Austritt aus der türkischen Staatsangehörigkeit habe er die Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG erfüllt. Die eigentliche Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit erfolge stets erst nach erfolgter Einbürgerung in einen anderen Staatsverband. Unabhängig von der Einbürgerungszusicherung habe er jedenfalls einen gesetzlichen Anspruch auf Einbürgerung, hilfsweise auf erneute Einbürgerungszusicherung, weil alle Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt seien. Insbesondere liege der Ausschlussgrund des § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG a.F. nicht vor. […]

 

Gründe:

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Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch sonst zulässig. Die Berufungsbegründungsschrift wurde form- und fristgemäß beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht (vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 1 und 2 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen (bestimmter Antrag, ausreichende Begründung; vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 4 VwGO).

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Die Berufung ist in dem tenorierten Umfang begründet, im Übrigen jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband oder auf Neubescheidung seines darauf gerichteten Antrags. Insoweit hätte das Verwaltungsgericht die Klage abweisen müssen (1.). Der Kläger hat jedoch im Wege der Folgenbeseitigung einen Anspruch auf Erteilung einer neuen Einbürgerungszusicherung, so dass auf seinen Hilfsantrag eine entsprechende Verpflichtung der Beklagten auszusprechen ist (2.).

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1. Den Einbürgerungsantrag des Klägers hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Die Versagung der Einbürgerung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat auch keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte seinen Antrag auf Einbürgerung neu bescheidet (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). […]

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2. Der Kläger hat jedoch auf der Grundlage des Folgenbeseitigungsanspruchs einen Anspruch auf Erteilung einer neuen Einbürgerungszusicherung, so dass auf seinen Hilfsantrag eine entsprechende Verpflichtung der Beklagten auszusprechen ist.

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a) Der erstmals in der Berufungsinstanz gestellte Hilfsantrag stellt - jedenfalls soweit er auf Erteilung einer neuen Einbürgerungszusicherung im Wege der Folgenbeseitigung gerichtet ist – keine Klageänderung im Sinn des § 91 VwGO dar, weil er auf Wiederherstellung eines früheren Zustandes gerichtet ist, den der Kläger bereits innehatte. Es handelt sich vielmehr um eine Beschränkung des Klageantrags, die nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Klageänderung zu behandeln ist. […]

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b) Der Anspruch auf Folgenbeseitigung, der ein Verschulden der Behörde nicht voraussetzt, ist auf die Wiederherstellung des ursprünglichen, durch hoheitlichen Eingriff veränderten Zustands gerichtet […]. Er ist hier gegeben, weil die Beklagte die Realisierung des aufgrund der Bindungswirkung der Einbürgerungszusicherung - die nicht nach § 38 Abs. 3 LVwVfG entfallen ist (aa) und auch nicht hätte zurückgenommen oder widerrufen werden können (bb) - gegebenen Einbürgerungsanspruchs objektiv wesentlich erschwert hat, indem sie den Kläger, nachdem dieser die Genehmigung zum Ausscheiden aus der türkischen Staatsangehörigkeit vorgelegt und damit aus seiner Sicht alle Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt hatte, über den Stand und den Fortgang des Verwaltungsverfahrens im Unklaren ließ, obwohl sie aufgrund des Grundsatzes der Verfahrensklarheit und auch mit Blick auf die Vorwirkungen des Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet gewesen wäre, ihn darauf hinzuweisen, dass sie die Entscheidung über den Einbürgerungsantrag bis zu einer zeitlich nicht absehbaren Entscheidung des Innenministeriums zurückgestellt hat (dd).

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aa) Zutreffend hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Bindungswirkung der Zusicherung nicht nach § 38 Abs. 3 LVwVfG entfallen ist.

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(1) Die entscheidungserhebliche Rechtslage hat sich nicht geändert. Bereits nach dem zum Zeitpunkt der Erteilung der Einbürgerungszusicherung geltenden § 86 Nr. 2 AuslG in der Fassung des Gesetzes vom 15.07.1999 bestand ein Anspruch auf Einbürgerung nach § 85 AuslG nicht, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Einbürgerungsbewerber Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, es sei denn, der Einbürgerungsbewerber macht glaubhaft, dass er sich von der früheren Verfolgung oder Unterstützung derartiger Bestrebungen abgewandt hat. Dieser Ausschlussgrund wurde später ohne inhaltliche Änderungen in § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG (heute: § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG) übernommen.

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(2) Die Änderung der Erkenntnislage, auf die die Beklagte sich beruft, stellt keine Änderung der Sachlage dar. Die nachträgliche Erkenntnis einer Behörde, dass sie die Zusicherung aufgrund falscher tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen gegeben hat, steht einer Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht gleich […].

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bb) Eine Rücknahme oder ein Widerruf der Einbürgerungszusicherung nach § 38 Abs. 2 i.V.m. §§ 48, 49 LVwVfG wäre ebenfalls nicht möglich gewesen.

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(1) Eine Rücknahme scheidet aus, weil der Kläger die Einbürgerungszusicherung nicht durch arglistige Täuschung oder durch unvollständige Angaben erwirkt hat.

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Zwar dürfte die Einbürgerungszusicherung rechtswidrig gewesen sein, weil der Einbürgerung - was die Beklagte damals nicht wusste - der Ausschlussgrund des § 86 Nr. 2 AuslG (jetzt: § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG) entgegenstand. Die IGMG wird in der Rechtsprechung als eine Organisation angesehen, die Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.06.2008 - 13 S 2613/03 […], bestätigt durch BVerwG, Urt. v. 02.12.2009 - 5 C 24.08  […]; NdsOVG, Urt. v. 15.09.2009 - 11 LB 487/07  […]; OVG Bln-Bbg, Urt. v. 10.02.2011 - OVG 5 B 6.07 […]; BayVGH, Beschl. v. 28.03.2012 - 5 B 11.404  […]). Aktivitäten von Funktionären oder Mitgliedern der IGMG werden in der Rechtsprechung überwiegend als einbürgerungsschädlich angesehen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.06.2008 - 13 S 2613/03 […]). Erst für die Zeit ab 2004 hat der 13. Senat des erkennenden Gerichtshofs Reformbestrebungen innerhalb der IGMG ausgemacht, die dazu führen, dass diese nunmehr nicht mehr als eine homogene und - bezogen auf die Frage der Akzeptanz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung - in ihrer Zielrichtung einheitliche Bewegung anzusehen sein soll […]. Die Tätigkeit des Klägers als Vorstandsmitglied im Jahr 2000, d.h. in einem Zeitraum, in dem die IGMG als eine homogene, insgesamt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bewegung anzusehen war, stellt somit eine Unterstützungshandlung im Sinn des § 86 Nr. 2 AuslG (jetzt: § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG) dar, die von hinreichendem Gewicht sein dürfte, um den Verdacht zu rechtfertigen, dass er die IGMG unterstützt. 

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Der Kläger hat seine Einbürgerung jedoch nicht durch arglistige Täuschung im Sinn des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 LVwVfG, durch unvollständige Angaben im Sinn des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 LVwVfG oder ein vergleichbar vorwerfbares Verhalten erwirkt. „Erwirken“ setzt ein zweck- und zielgerichtetes Handeln voraus, das auf eine Rechtsfolge gerichtet ist […]. Es lässt sich nicht zur Überzeugung des Senats feststellen, dass der Kläger bei Abgabe seiner Loyalitätserklärung bei Stellung des Einbürgerungsantrags im Juni 2000 bzw. bei Abgabe der weiteren Loyalitätserklärung im Februar 2002 wissentlich und zweckgerichtet, um seine Einbürgerung rechtswidrigerweise zu erreichen, von ihm unterstützte verfassungsfeindliche Bestrebungen verschwiegen hat. Anhand der abstrakt und allgemein
ihm vorgegebenen Kriterien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung musste der Kläger zum einen selbst bewerten, ob er diesen Grundsätzen für sich zustimmen kann oder ob er im Wege seiner Aktivitäten für die IGMG die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpfen und letztlich überwinden will. Zum anderen musste der Kläger einzuschätzen versuchen, wie seine Aktivitäten mutmaßlich von der Einbürgerungsbehörde eingestuft werden.

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Danach war für den Kläger kein Anlass gegeben, seine Aktivitäten bei Milli Görüs, die er selbst in erster Linie als religiös und sozial motivierte Betätigung für einen religiös ausgerichteten Verein ansah, ohne ausdrückliche Frage der Einbürgerungsbehörde nach Mitgliedschaften in derartigen Vereinigungen als verfassungsfeindliche Betätigung einzuschätzen (ebenso zu einem vergleichbaren Fall: HessVGH, Urt. v. 18.01.2007 - 11 UE 111/06 […]; bestätigt durch BVerwG, Beschl. v. 13.06.2007 - 5 B 132.07 […]). Nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung hat er sich zusammen mit Gleichgesinnten in erster Linie deshalb bei Milli Görüs engagiert, um im Rahmen eines islamischen Vereins Jugendarbeit zu leisten und Hausaufgabenbetreuung zu organisieren. Es konnte ihm nicht abverlangt werden, die Bewertung der Tätigkeit von Milli Görüs, die erst der Behörde im Rahmen der Anwendung von § 86 Nr. 2 AuslG bzw. § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG obliegt, bereits selbst vorzunehmen. Es lässt sich nicht feststellen, dass der verfassungsfeindliche Charakter der Bestrebungen von Milli Görüs damals (zum Zeitpunkt der Abgabe der Loyalitätserklärungen) so eindeutig und offensichtlich war, dass angenommen werden muss, jedes Vorstandsmitglied von örtlichen Mitgliedsvereinigungen hätte erkennen können und müssen, dass es verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt. Immerhin war die Frage, ob Aktivitäten für die Vereinigung Milli Görüs die Annahme des Unterstützens verfassungsfeindlicher Bestrebungen rechtfertigen, damals auch in der Rechtsprechung unterschiedlich gesehen worden (einerseits etwa BayVGH, Urt. v. 16.07.2003 - 20 BV 02.2747, 20 CS 02.2850 […]; andererseits VG Karlsruhe, Urt. v. 26.02.2003 - 4 K 2234/01 […]). Eine höchstrichterliche Klärung ist erst durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 02.12.2009 (- 5 C 24.08 […]) erfolgt.

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(2) Ein Widerruf nach § 49 LVwVfG scheidet aus, weil kein Widerrufsgrund nach § 49 Abs. 2 LVwVfG vorliegt. Zudem enthält § 38 Abs. 3 LVwVfG eine Spezialregelung gegenüber § 49 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 LVwVfG, die die Anwendung der genannten Widerrufstatbestände ausschließt […].

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cc) Die Bindungswirkung der Einbürgerungszusicherung ist nach alledem erst mit Ablauf ihrer Geltungsdauer am 14.08.2002 entfallen. Die Beklagte hätte sich jedoch gegenüber dem Kläger auch nach diesem Zeitpunkt nach Treu und Glauben solange nicht auf den Fristablauf berufen können, wie dieser die Einbürgerungsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG erfüllt hat […].

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dd) Bei dieser Sachlage war die Beklagte verpflichtet, den Kläger, der aus seiner Sicht alle Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt hatte und der damit rechnen konnte und durfte, dass die Beklagte alsbald über seinen Einbürgerungsantrag entscheiden werde, darauf hinzuweisen, dass sie mit Blick auf die Mitteilung des Landesamtes für Verfassungsschutz vom 12.12.2001 die Einbürgerungsakten ebenfalls auf dem Dienstweg dem Innenministerium vorgelegt hat und dass sie ihre Entscheidung über den Einbürgerungsantrag bis zu einer zeitlich nicht absehbaren Entscheidung des Innenministeriums zurückgestellt hat. Durch einen derartigen Hinweis wäre der Kläger in die Lage versetzt worden, seinen Einbürgerungsanspruch zeitnah durch Erhebung einer Untätigkeitsklage gerichtlich geltend zu machen und so möglicherweise rechtzeitig vor Ablauf der Geltungsdauer der Erlaubnis zur Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit ein Verpflichtungsurteil zu erstreiten.

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Das aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitende Gebot eines rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahrens wirkt sich auch auf die Verfahrensgestaltung aus. Unter dem Aspekt des Grundsatzes der Formen- und Verfahrensklarheit verlangt es, dass die Behörde die Verfahrensbeteiligten nicht über die Gestaltung des Verfahrensgangs im Unklaren lässt. Dies gilt in besonderem Maße gegenüber nicht anwaltlich vertretenen Verfahrensbeteiligten. Über den Stand des Verfahrens ist der Betroffene zu unterrichten […]. Art. 19 Abs. 4 GG wirkt auf die Ausgestaltung des dem Gerichtsverfahren vorgelagerten Verwaltungsverfahrens dergestalt ein, dass es den Rechtsschutz weder vereiteln noch unzumutbar erschweren darf […].

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Hier hat die Beklagte, indem sie den damals noch nicht anwaltlich vertretenen Kläger nicht über den Fortgang des Verfahrens unterrichtet hat, gegen den Grundsatz der Verfahrensklarheit verstoßen und die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes unzumutbar erschwert. Der Kläger hatte von sich aus keine Veranlassung, Untätigkeitsklage mit dem Ziel zu erheben, seinen Anspruch auf Einbürgerung vor Ablauf der Geltungsdauer der Einbürgerungszusicherung gerichtlich durchzusetzen. Er konnte und durfte darauf vertrauen, dass die Beklagte alsbald über seinen Einbürgerungsantrag entscheiden werde. Das Schreiben vom 07.02.2002, mit welchem der Kläger um persönliche Vorsprache zwecks Aktualisierung seines Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und schriftlicher Dokumentierung seiner Grundkenntnisse im deutschen Staatsrecht gebeten wurde, war nicht geeignet, sein diesbezügliches Vertrauen zu erschüttern. Auch bei der Vorsprache selbst war die Unterstützung bestimmter Organisationen wie Milli Görüs kein Thema. Vielmehr musste der Kläger die Loyalitätserklärung wiederum allein anhand der abstrakt und allgemein ihm vorgegebenen Kriterien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abgeben. Seine Kenntnisse bezüglich der staatlichen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland wurden als gut bewertet, so dass der Kläger davon ausgehen konnte, dass auch insoweit der Einbürgerung nichts entgegenstehe. Erst durch das Anhörungsschreiben vom 06.11.2003 wurde er darüber unterrichtet, dass man beabsichtige, seinen Einbürgerungsantrag wegen seines Engagements für die IGMG abzulehnen. Der auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht anwaltlich vertretene Kläger wurde somit über einen Zeitraum von über zwei Jahren über den Stand und den Fortgang des Verfahrens im Unklaren gelassen. Hierdurch wurde die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes objektiv erheblich erschwert. Er ist daher im Wege der Folgenbeseitigung so zu stellen, wie er vor Verletzung der Verfahrenspflichten durch die Beklagte stand, d.h. ihm ist eine neue, wiederum auf zwei Jahre befristete Einbürgerungszusicherung zu erteilen. […]

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