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Rechtsurteile

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Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht nach Einverständnis mit dem selbigen bei Schulanmeldung

Das Einverständnis der Eltern zu einem koedukativen Schwimmunterricht gegenüber der Schule während der Schulanmeldung kann dazu führen, dass sie sich aufgrund des Grundsatzes von Treu und Glauben gem. § 242 BGB diesbezüglich nicht mehr auf die Glaubensfreiheit berufen können, da sie in diesem Thema über ihre Glaubensfreiheit disponiert und so dem Schulunterricht den Vorrang gewährt haben. (Leitsatz der Redaktion)


Leitsätze:

1. Die Schule kann einem Befreiungsanspruch vom koedukativen Schwimmunterricht einen Verstoß gegen Treu und Glauben entgegenhalten, wenn sich die Eltern bei der Schulanmeldung mit diesem Unterricht einverstanden erklärt haben und nach Abgabe dieser Erklärung kein beachtlicher Sinneswandel oder sonst eine relevante Änderung der Verhältnisse eingetreten ist.

2. Die Willenserklärung eines Elternteils gegenüber der Schule bindet nach den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht auch den anderen Elternteil, sofern die Schule keine konkreten Anhaltspunkte dafür hat, dass die Eltern getrennt leben, geschieden sind oder das Sorgerecht im Einzelfall nicht einverständlich ausüben.

 

Urteil:

Die Berufung wird zurückgewiesen. [...]

 

Zum Sachverhalt:

 

Die am 5. 6. 1997 geborene Klägerin ist islamischen Glaubens und besucht seit dem Schuljahr 2007/2008 die vom Beklagten geleitete Gesamtschule. Auf dem Anmeldebogen unterschrieb die Mutter der Klägerin im Februar 2007: "Mit meiner Unterschrift erkläre ich mich ausdrücklich mit dem Schulprogramm der Gesamtschule E. -Mitte einverstanden (u. a. Klassenfahrten in den Jahrgängen 6, 8, 10, 12; Teilnahme an Berufspraktika; gemeinsamer Sport- und Schwimmunterricht von Mädchen und Jungen)."

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Zu Beginn des 6. Schuljahres im August 2008 beantragte der Vater der Klägerin beim Beklagten, sie vom koedukativen Schwimmunterricht freizustellen. Nach Gesprächen mit der Klägerin und ihrem Vater teilte der Beklagte den Eltern der Klägerin mit Schreiben vom 3. 9. 2008 und 24. 9. 2008 mit, sie sei verpflichtet, am koedukativen Schwimmunterricht teilzunehmen. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Bezirksregierung E1. durch Widerspruchsbescheid vom 15. 12. 2008 zurück.

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Die Klägerin hat am 19. 1. 2009 Klage erhoben. Sie hat im Einzelnen vorgetragen, aus welchen religiösen Gründen sie am gemeinsamen Schwimmunterricht nicht teilnehmen könne. [...]

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Die Klägerin hat beantragt,

die Bescheide des Beklagten vom 3. 9. 2008 und 24. 9. 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E1. vom 15. 12. 2008 aufzuheben und ihn zu verpflichten, der Klägerin für das Schuljahr 2008/2009 die Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht zu erteilen.

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Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen. [...]

Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Es liege kein wichtiger Grund für die Befreiung der Klägerin vom koedukativen Schwimmunterricht im Sinne von § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW vor. Die Glaubensfreiheit der Klägerin und ihrer Eltern müsse bei der gebotenen Abwägung mit dem staatlichen Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG zurücktreten. Schwimmunterricht sei aus mehreren Gründen wichtig. Der Beklagte habe nachvollziehbar dargelegt, dass ein nach Geschlechtern getrennter Unterricht organisatorisch nicht möglich sei. Der schonende Ausgleich mit den Interessen der Klägerin sei dadurch herbeizuführen, dass sie in spezieller Badebekleidung am Schwimmunterricht im Wasser oder mit einem weiten Bademantel außerhalb des Wassers teilnehme.

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Mit ihrer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung vertieft und ergänzt die Klägerin ihren bisherigen Vortrag. Sie hält koedukativen Schwimmunterricht für verzichtbar und bezweifelt, dass der Beklagte alle zu Gebote stehenden, zumutbaren organisatorischen Möglichkeiten ausgeschöpft habe, um einen nach Geschlechtern getrennten Unterricht anzubieten. Das Verwaltungsgericht dürfe ihr nicht vorschreiben, was ihr Glauben zulasse. Ihre Glaubensüberzeugung ließe sich mit einem getrennten Schwimmunterricht noch vereinbaren, auch wenn dabei die anderen Mädchen nicht nach den islamischen Bekleidungsvorschriften gekleidet seien. Beim Anblick von Jungen sei ihre Gewissensnot erheblich größer. Ihre Mutter habe sich bei der Schulanmeldung nicht ausdrücklich mit einem koedukativen Schwimmunterricht einverstanden erklärt. Darüber sei bei der Anmeldung nicht gesprochen worden. Den Klammerzusatz auf dem Schulanmeldebogen hätten ihre Eltern überlesen. Außerdem habe der Beklagte ihre ältere Schwester einige Jahre vorher unproblematisch vom Schwimmunterricht befreit, so dass ihre Eltern davon hätten ausgehen dürfen, dass dies bei ihr entsprechend gehandhabt werde. [...]

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Nachdem die Klägerin zunächst beantragt hat,

das angefochtene Urteil zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen,

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beantragt sie nunmehr,

das angefochtene Urteil zu ändern und festzustellen, dass das Ablehnungsschreiben des Beklagten vom 24. 9. 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E1. vom 15. 12. 2008 rechtswidrig ist.

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Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen. [...]

 

Gründe:

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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Sie ist zulässig [...], aber unbegründet [...].


I.

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Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. [...]

II.

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Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist unbegründet. Das Ablehnungsschreiben des Beklagten vom 24. 9. 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E1. vom 15. 12. 2008 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hatte im Schuljahr 2008/2009 keinen Anspruch gegen den Beklagten, sie von der Teilnahme am Schwimmunterricht zu befreien.

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1. Rechtsgrundlage für einen solchen Anspruch ist § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW. Nach dieser Vorschrift kann der Schulleiter Schüler auf Antrag der Eltern aus wichtigem Grund bis zur Dauer eines Schuljahres von der Teilnahme an einzelnen Unterrichts- oder Schulveranstaltungen befreien. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW liegt u. a. vor, wenn sowohl die Schule als auch die Eltern und ihr Kind den Konflikt zwischen dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG einerseits und dem Elternrecht auf religiöse Kindererziehung aus Art. 6 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG andererseits im konkreten Einzelfall auch durch zumutbare Maßnahmen nicht zu einem schonenden Ausgleich führen können (Grundsatz der praktischen Konkordanz).

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2. Ob in diesem Sinne hier ein wichtiger Grund vorlag, kann dahinstehen. Denn der Klägerin war es nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verwehrt, einen Befreiungsanspruch geltend zu machen. Dieser Grundsatz gilt auch im hier maßgeblichen Landesrecht [...]. Die Eltern der Klägerin haben der Teilnahme ihrer Tochter am koedukativen Schwimmunterricht bei der Schulanmeldung zugestimmt [...]. Daran muss die Klägerin sich nach Treu und Glauben festhalten lassen [...].

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a) Die Geltendmachung eines Befreiungsanspruchs kann materiell-rechtlich gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen, der als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch im öffentlichen Recht gilt. [...]

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Dieser ist im hier maßgeblichen nordrhein-westfälischen Schulrecht Ausfluss der Verpflichtung zum partnerschaftlichen und vertrauensvollen Zusammenwirken von Schule und Eltern (§ 2 Abs. 3 Satz 2, § 42 Abs. 1 Satz 3 SchulG NRW), die sich, insofern zeitlich vorwirkend, auch bereits auf das Schulaufnahmeverfahren nach § 46 SchulG NRW erstreckt.

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In diesem Aufnahmeverfahren darf die Schulleitung für die in ihrem Ermessen stehenden Aufnahme von Schülern (§ 46 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW) nach dem Einverständnis mit koedukativem Schwimmunterricht fragen und die Aufnahme vom Einverständnis der Eltern damit abhängig machen. Die Einholung einer solchen Einverständniserklärung ist insbesondere dann nicht zu beanstanden, wenn sie dem Zweck dient, im Interesse der Verpflichtung zur partnerschaftlichen und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern (§ 2 Abs. 3 Satz 2, § 42 Abs. 1 Satz 3 SchulG NRW) und einer störungsfreien Erziehung und Bildung in der Schule die Eltern und ihr minderjähriges Kind bereits bei der Aufnahme des Kindes auf die Einhaltung des im Schulprogramm oder sonstigen Unterrichtsplanungen vorgesehenen koedukativen Schwimmunterrichts zu verpflichten. [...] Eine solche Verständigung zwischen der Schule und den Eltern minderjähriger Schüler bereits bei der Entscheidung über die Aufnahme in eine weiterführende Schule ist unter Ermessensgesichtspunkten und auch sonst nicht zu beanstanden. [...]

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Wenn sich die Eltern einer minderjährigen Schülerin bei der Anmeldung zu einer weiterführenden Schule damit einverstanden erklärt haben, dass ihr Kind am koedukativen Schwimmunterricht teilnimmt, und nach Abgabe dieser Erklärung kein beachtlicher Sinneswandel oder sonst eine relevante Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, die ein Festhalten an der Einverständniserklärung als unzumutbar erscheinen lässt, verhalten sie sich treuwidrig, wenn sie anschließend einen Befreiungsanspruch vom koedukativen Schwimmunterricht geltend machen. Diese Treuwidrigkeit kann die Schule einem später geltend gemachten Befreiungsanspruch mit Erfolg entgegenhalten. [...]

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b) Dies ist hier der Fall. Beide Eltern der Klägerin haben sich bei deren Anmeldung zur Gesamtschule E. -Mitte im Februar 2007 damit einverstanden erklärt, ihre Tochter am koedukativen Schwimmunterricht teilnehmen zu lassen [...]. Jedenfalls war es treuwidrig, diese Erklärung aufrecht zu erhalten, auch nachdem ihnen bewusst wurde, dass sie eine Erklärung unterschrieben hatten, die sie nicht bereit waren vollständig einzuhalten [...].

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aa) Die Eltern der Klägerin waren bei der Anmeldung der Klägerin damit einverstanden, dass diese am koedukativen Schwimmunterricht teilnimmt. Die entsprechende Erklärung der Mutter [...] ist dem Vater der Klägerin nach den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht zuzurechnen. [...]

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bb) Abgesehen von dem ausdrücklich erklärten Einverständnis verstößt das Verhalten der Eltern der Klägerin jedenfalls deswegen gegen den oben genannten Grundsatz von Treu und Glauben, weil sie sich nicht nach der Schulanmeldung wegen des von ihnen abgelehnten Schwimmunterrichts an den Beklagten gewandt haben. Hierzu waren sie aufgrund der vorwirkenden Verpflichtung zur vertrauensvollen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit der Schule (§ 2 Abs. 3 Satz 2, § 42 Abs. 1 Satz 3 SchulG NRW) spätestens in dem Zeitpunkt gehalten, als ihnen zu Hause ihr schriftlich erklärtes Einverständnis mit dem gemeinsamen Schwimmunterricht bewusst wurde. [...]

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c) Die Klägerin muss sich nach Treu und Glauben an der Einverständniserklärung ihrer Eltern festhalten lassen. Dies ist weder unzumutbar [...], noch liegt darin ein unzulässiger Eingriff in die Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG [...].

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aa) Ohne Erfolg macht die Klägerin geltend, ein Festhalten an der Einverständniserklärung ihrer Eltern sei ihr unzumutbar, weil sie im August 2008, eineinhalb Jahre nach der Anmeldung im Februar 2007, selbst begonnen habe, ihr Leben nach ihrem Glauben auszurichten. [...]

48

bb) Das Festhalten der Klägerin am Einverständnis ihrer Eltern mit gemeinsamem Schwimmunterricht stellt jedenfalls keinen unzulässigen Eingriff in ihre Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG dar. Es liegt bereits kein Eingriff vor [...]. Aber selbst wenn es sich um einen Eingriff handeln sollte, wäre dieser hier gerechtfertigt [...].

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aaa) Das Festhalten der Klägerin am Einverständnis ihrer Eltern ist kein Eingriff in ihre Glaubensfreiheit. Der Inhalt der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG wird maßgeblich vom Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft und von den konkreten Überzeugungen des einzelnen Gläubigen bestimmt. [...]

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Da der Umgang von muslimischen Gläubigen mit der Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht nicht einheitlich ist, ist das schriftliche Einverständnis der Eltern der Klägerin mit koedukativem Schwimmunterricht als verbindliche Erklärung zu verstehen, die Teilnahme sei mit ihrer individuellen Glaubensüberzeugung zu vereinbaren.

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bbb) Aber selbst dann, wenn die Eltern der Klägerin diese Erklärung nur mit einem inneren Vorbehalt abgegeben oder aufrecht erhalten hätten und wenn das Festhalten an der Teilnahmepflicht einen Eingriff in Art. 4 Abs. 1 GG bedeutete, wäre dieser gerechtfertigt.

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Ein solcher Eingriff kann im Rahmen praktischer Konkordanz mit Rücksicht auf andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte oder andere verfassungsrechtlich geschützte Güter gerechtfertigt sein. Dazu kann der Grundrechtsberechtigte auf seine Grundrechtsausübung teilweise verzichten. Ein Grundrechtsverzicht kann zulässig sein, wenn es sich um eine rechtlich verbindliche, freiwillige, ausreichend konkrete Einwilligung eines Einwilligungsfähigen in eine bestimmte Maßnahme handelt, die einzelne, sich aus einem Grundrecht ergebende Befugnisse einschränkt, soweit das Grundrecht nicht aus Gründen höherwertiger Interessen unverfügbar ist und keine anderen Verfassungsrechtsgüter entgegenstehen. Insbesondere bei Grundrechten wie der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG, die personale Rechtsgüter schützen und die persönliche Entfaltungsfreiheit des Menschen gewährleisten, sind spezifische, sachlich und zeitlich begrenzte Ausübungsformen unter den oben genannten Voraussetzungen grundsätzlich verzichtbar. [...]

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Gemessen daran ist das Einverständnis der Eltern in Bezug auf die gegebene Konfliktsituation widerstreitender Interessen als Zugeständnis im Rahmen einer im Wege praktischer Konkordanz zu findenden Lösung des Konfliktes zwischen ihrem Recht zur Kindererziehung in religiöser Hinsicht (Art. 4 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) und der Glaubensfreiheit ihrer Tochter (Art. 4 Abs. 1 GG) sowie dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates (Art. 7 Abs. 1 GG) anzusehen. Sie haben damit erklärt, sie nähmen die mit der Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht verbundenen Einschränkungen der Glaubensfreiheit und ihres Erziehungsrechts hin, und haben insoweit auf die Ausübung der Grundrechte verzichtet, um der aus dem staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag erwachsenden Teilnahmepflicht zu genügen. [...]

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